Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
führen.»
«Ich werde mit ihr reden», versprach Semjon.
Antoscha warf ihm einen fragenden Blick zu.
«Sie trifft Entscheidungen gern selbst. Und mir ist es egal, ob ein paar hinterhältige Edelmänner und korrupte Minister zusammen mit St. Sin am Galgen landen.»
«Ich verstehe», sagte Antoscha. «Und was ist mit dem Rudel?»
«Wir werden schon überleben. So war es doch bisher immer.»
«Und Seine Majestät?»
«Lang lebe der König», entgegnete Semjon trocken.
Antoscha räusperte sich. «Ich hatte ja keine Ahnung, dass du wegen einer Frau in derartige Torheiten verfallen könntest.»
«Sie ist keine gewöhnliche Frau.»
«Ich wünsche euch beiden jedenfalls alles Gute. Und?» Er zeigte mit dem Kopf auf den gefalteten Brief, den Semjon immer noch in Händen hielt. «Was steht denn nun in dem Brief drin?»
Semjon zuckte leicht zusammen. «Ich hatte ganz vergessen, dass ich ihn noch in der Hand halte.»
Antoscha nickte, als Semjon anfing zu lesen, und es dauerte nicht lange, bis Ekel und Wut sich auf seinem Gesicht breitmachten. «Er beschreibt ganz genau, was er mit Angelica und auch mit mir machen will, wenn die Zeit gekommen ist. Durch und durch verdorbener, wirrer Schmutz.» Er zerknüllte die Seiten und erhob sich, um sie ins Feuer zu werfen.
Sie begannen sehr schnell zu brennen, sodass schon bald eine dünne Rauchfahne durch den Raum zog. Und als schließlich ein Eindringling das Fenster öffnete, waren Antoscha und Semjon längst bewusstlos. Der Mann und noch ein zweiter, stärkerer Kerl zerrten sie binnen Sekunden ins Freie und in eine bereitstehende Kutsche.
Angelica hörte in ihrem Zimmer in der obersten Etage zwar einen Tumult, wagte aber nicht, nach unten zu laufen.
Dennoch reichten die Geräusche und die Namen, die sie hörte – Semjon, Antoscha – aus, um sie aufmerksam lauschen zu lassen und sich dem Lärm zumindest ein paar Schritte über die Treppe zu nähern.
Hatte man etwa vergessen, dass sie auch noch existierte? Sie rief sich in Erinnerung, dass nicht jeder hier im Haus von ihrer Gegenwart wusste.
Der jungen Frau schien es, als wäre ihrem Mann etwas zugestoßen. Sie hörte Rufe in der Eingangshalle, die sie Iwan zuwies.
Vorsichtig und geräuschlos gelang es ihr, eine weitere Treppe hinabzusteigen, ohne entdeckt zu werden.
Nach und nach ergaben einige Sätze, die sie aufschnappte, auch einen Sinn. Doch je mehr sie verstand, desto mehr wurde sie von einer unbekannten Angst gepackt.
Das Fenster zum vorderen Salon war aufgebrochen und Semjon und Antoscha blutend nach draußen gezerrt worden. Und irgendein giftiger Rauch hatte dafür gesorgt, dass noch zwei weitere Männer das Bewusstsein verloren hatten.
Angelica hatte keinerlei Zweifel, dass ihr Geliebter und der Sekretär des Rudels gegen ihren Willen fortgeschafft worden waren. Und auch den Grund dafür konnte sie leicht erraten.
Sie musste der Grund für ihre Entführung sein. Angelica konnte dem Rudel nicht gegenübertreten. Dazu wusste sie einfach nicht genau, wo sie mit ihnen stand. Die junge Frau befürchtete das Schlimmste. Man hatte sich unten um zwei weitere Verletzte zu kümmern. Sie musste fort, bevor man ihr die Schuld für die ganze Angelegenheit gab.
Der einzige Ausweg bestand in einer Flucht. Und zwar bevor sich jemand anschickte, sie zu holen. In verzweifelter Eile kleidete sie sich an und zog dabei mehrere Kleidungsstücke übereinander, um nichts tragen zu müssen. Dann raffte sie ein wenig Geld zusammen und steckte zu guter Letzt auch noch einen Kamm ein.
Schließlich musste sie weiterhin vorzeigbar bleiben und auch etwas zu essen kaufen können, um bei Kräften zu bleiben. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, Semjon zu finden. Und wenn sie zu diesem Zweck die gefährlichsten Höllenlöcher Londons durchkämmen musste. Verdammt – sie würde sogar splitternackt durch die düsteren Spelunken marschieren, wenn es sein musste.
Aufgrund der Branche, in der Victor tätig war, hatte er natürlich eine Schwäche für derlei Lokalitäten. Die Bösartigkeit ihres Stiefbruders kannte einfach keine Grenzen.
Angelica war sicher, dass ihr Geliebter nur entführt und fortgeschafft worden war, um letzten Endes irgendwie an sie heranzukommen. Man würde ihn als Lockvogel einsetzen, um sie einzufangen. Aber das hieß zumindest, dass man ihn am Leben ließe, bis sie in die Falle getappt war – wo immer sich diese Falle auch befand. Ganz sicher nicht im Salon eines ruhigen Hauses. Und auch nicht in einem
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