Die Leidenschaft des Cervantes
führte mich ab. Wir gelangten in einen abgelegenen Teil des Palasts auf einen von hohen Mauern umgebenen quadratischen Hof, dessen Boden aus blanker Erde bestand. Eine an Ketten aufgehängte Holzplanke zeigte an, wo sich der Eingang zu einem unterirdischen Verlies befand. »Da rein«, befahl der Mann. Als er die Planke hinabließ, musste ich mich auf dem bloßen Boden zusammenkauern, die Knie eng an die Brust gezogen, so niedrig war die Zelle. In dem feuchten Loch stank es nach Urin, Fäkalien und getrocknetem Blut. Ein Riss in der Planke war breit genug, sodass ein einzelner Sonnenstrahl hindurchfiel. Erträglich war es in dem Verlies nur, wenn ich flach auf dem Rücken lag.
Am folgenden Tag hob der Kerkermeister die Planke hoch und reichte mir einen Becher Wasser und ein Stück Brot. Ich hatte panische Angst, dass das Essen lediglich ein Vorspiel zu den Peitschenhieben war. Ohne den Blick vom Boden zu heben, aß und trank ich.
»Erinnerst du dich nicht an mich, Miguel?« Der Mann sprach mit einem Córdobeser Akzent. Es überraschte mich, dass er meinen Vornamen kannte. Der Maure lächelte, vage kam er mir bekannt vor. »Ich bin’s, Abu. Als Kinder waren wir in Córdoba befreundet.«
Ich spuckte den harten Brotkanten aus, auf dem ich gerade herumgekaut hatte. Bei unserer letzten Begegnung waren wir noch Kinder gewesen. »Abu«, sagte ich, als wollte ich mich vergewissern, dass ich nicht träumte. »Ich habe mich immer gefragt, was aus dir geworden ist.« Vor Überraschung war ich wie erstarrt.
Abu streckte eine Hand aus und zog mich aus dem Loch. Dann schloss er mich in die Arme.
Als wir uns voneinander lösten, sagte ich: »Ich dachte, du wärst bei dem Aufstand in den Alpujarras ums Leben gekommen.«
»Nein, wir haben Spanien verlassen, als 1575 alle moriscos vertrieben wurden. Zuerst sind wir nach Marokko gegangen. Mein Vater ist an einem gebrochenen Herzen gestorben. Spanien war seine Heimat, das Land, das er geliebt und wo seine Familie jahrhundertelang gelebt hatte.«
»Es tut mir leid, vom Tod deines Vaters zu hören. Ist deine Mutter auch hier?«
»Sie ist meinem Vater kurz nach seinem Tod gefolgt. Sie hatte ihr Herz in Córdoba zurückgelassen. Bald nachdem sie gestorben war, bin ich hierhergekommen und habe Arbeit bei Arnaut Mamí gefunden.«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Unglück war nichts im Vergleich zu dem, was der Familie meines Freundes zugestoßen war. »Und Leyla?«, fragte ich.
»Sie hat einen Kaufmann geheiratet. Sie leben in einem Dorf an der Küste von Tunesien.« Nach einer Pause sagte er: »Jetzt solltest du besser wieder in deiner Zelle verschwinden. Es wäre nicht gut, wenn jemand sieht, wie wir uns unterhalten. Spanien ist nicht mehr meine Heimat. Angeblich sind wir jetzt Feinde. Aber ich werde immer dein Freund sein, Miguel. Ich gebe dir jeden Tag ein paar Prügel, und dann schlage ich auf den Boden. Aber du musst schreien, als würde ich dich prügeln, für den Fall, dass jemand zuhört.« Er zog aus seiner Hosentasche ein abgenutztes Exemplar von Lazarillo de Tormes und reichte es mir. »Das habe ich aus Spanien mitgebracht. Es ist das einzige Buch, das ich auf Spanisch habe. Ich weiß, dass du gerne Geschichten liest. Wenn du magst, borge ich es dir, damit es dir während deiner Gefangenschaft hier Gesellschaft leistet.«
In den kurzen Nachmittagsstunden, wenn ein fahler Sonnenstrahl in die Dunkelheit meines Kerkers vordrang, las ich Lazarillos Abenteuer und las sie immer wieder, bis ich das ganze schmale Buch auswendig kannte. Nur dieser Lazarillo – viel mehr als das dankbar empfangene Essen, das Abu mir regelmäßig zukommen ließ – hielt meine Lebensgeister aufrecht, versüßte mir die Stunden in dem stinkenden Loch und ließ die Zeit schneller vergehen. Lazarillos pikarische Abenteuer entführten mich nach Spanien, das ich vor so langer Zeit verlassen hatte, und seine Fährnisse und seine unverwüstliche bäuerliche Zuversicht ließen die jämmerlichen Umstände meines Daseins eine kurze Weile in den Hintergrund treten.
Eingeschlossen in dem feuchten, flachen Grab, lernte ich, das Vergehen der Zeit auf neue Art zu begreifen. Es gab Licht – wenn auch nie mehr als einen schwachen Strahl –, und dann gab es die monotone Dunkelheit. Manchmal kam es mir vor, als währten die Finsternis und die sie begleitende gespenstische Stille so lange, dass nur meine Körperfunktionen und die gellenden Schreie der Gefolterten in Arnaut Mamís Verliesen mich daran erinnerten,
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