Die Leopardin
Sie können! Finden Sie ihn!«
Das große Pub Fisherman’s Rest thronte wie eine Festung über der Küste, wenngleich Schornsteine die Wehrtürme ersetzten und Rauchglasscheiben die Schießscharten. Ein verblichenes Schild im Vorgarten warnte die Gäste vor dem Betreten des Strandes, der schon 1940 in Erwartung einer deutschen Invasion vermint worden war.
Seit sich die SOE in der Nähe angesiedelt hatte, herrschte Abend für Abend Hochbetrieb: Die Lampen strahlten hell hinter den Verdunklungsvorhängen, das Klavier klimperte laut, die Bars waren voll und an warmen Sommerabenden sogar der angrenzende Garten. Raue Lieder, schwere Besäufnisse und Knutschereien, die bis hart an die Grenzen des Anstands gingen, waren an der Tagesordnung. Die lockeren Sitten wurden toleriert, weil alle wussten, dass einige der jungen Leute, die heute noch an der Bar saßen und brüllend lachten, schon am nächsten Morgen zu Einsätzen aufbrachen, von denen sie vielleicht nie wieder zurückkehrten.
Nach Beendigung der zweitägigen Ausbildung luden Flick und Paul ihr Team ins Fisherman’s Rest ein. Die Frauen machten sich ausgehfein. Maude trug ein rosa Sommerkleid und war hübscher denn je. Ruby, die nie hübsch aussehen würde, wirkte in dem schwarzen Cocktailkleid, das sie sich von irgendwem geliehen hatte, glutvoll und erotisch. Lady Denises austernfarbenes Seidenkleid sah aus, als habe es ein Vermögen gekostet, half aber bei ihrer knochigen Figur auch nicht viel. Greta hatte sich in eines ihrer Bühnenkostüme geworfen – ein Cocktailkleid und rote Schuhe. Selbst Diana trug diesmal anstelle ihrer gewohnten ländlichen Kordhosen einen eleganten Rock und hatte zu Flicks Erstaunen sogar ein wenig Lippenrot aufgelegt.
Das Team hatte inzwischen den Decknamen Die Dohlen erhalten. Sie würden mit den Fallschirmen in der Nähe von Reims abspringen. Flick hatte sich an die Sage Die Dohle von Reims erinnert, jenen Vogel, der den Ring des Bischofs gestohlen hatte. »Die Mönche wussten einfach nicht zu sagen, wer ihn fortgenommen hatte«, erklärte sie Paul bei einem Glas Scotch – sie mit Wasser, er mit Eis. »Also ve rfluchte der Bischof den unbekannten Dieb. Als sie dann plötzlich die total verdreckte und zerzauste Dohle sahen, ging ihnen ein Licht auf, und sie erkannten sie als den unter den Folgen des Fluches leidenden Dieb. Ich hab das Gedicht in der Schule auswendig gelernt:
Der Tag war fort, Es kam die Nacht.
Die Mönche, die Brüder haben suchend gewacht. Der Sakristan erst im Morgengraun, Sah die Dohle dann, verkrüppelt die Klauen, Armselig und zag. Und nicht mehr so keck, Wie am vorigen Tag.
Die Federn, die standen die kreuz und die quer, Die Schwingen, sie hingen. Steh ‘n könnt sie kaum mehr. Und der Schädel war nackt wie der Mönche Tonsur, Das Auge so trüb – So zerschunden die Kreatur, Dass alle nur schrien: Haltet den Dieb!
Nun, und dann hat man natürlich den Ring in ihrem Nest gefunden.«
Paul nickte lächelnd, und Flick wusste, dass er genauso genickt und gelächelt hätte, wenn sie Isländisch gesprochen hätte. Ihn interessierte gar nicht, was sie sagte – er wollte sie bloß ansehen. Sie war nicht besonders erfahren in diesen Dingen, aber sie erkannte sehr wohl, wann ein Mann verliebt war. Und Paul war verliebt – in sie.
Wie ferngesteuert hatte sie den Tag verbracht. Die Küsse in der vergangenen Nacht hatten sie zutiefst erschreckt, aber auch erregt. Nein, hatte sie sich eingeredet, du willst keine außereheliche Affäre, du willst nichts anderes, als die Liebe deines untreuen Ehemanns zurückgewinnen. Doch Pauls Leidenschaft hatte ihre Prioritätenliste auf den Kopf gestellt. Aufgebracht fragte sie sich, warum sie sich gleichsam in die Warteschlange derer einreihen sollte, die um Michels Zuneigung buhlten, während ein Mann vom Kaliber Paul Chancellors bereit war, vor ihr auf die Knie zu fallen. Sie hätte ihn um ein Haar in ihr Bett gelassen, ja sie gestand sich ein, dass sie sich heimlich wünschte, er hätte sich nicht gar so gentlemanlike benommen. Denn wenn er sich über ihre Weigerung hinweggesetzt hätte und zu ihr unter die Decke geschlüpft wäre, hätte sie wahrscheinlich nachgegeben.
Aber es gab auch Momente, in denen sie sich allein schon des Kusses schämte, den sie ihm gegeben hatte. Es geschah ja so schrecklich häufig – überall in England vergaßen Frauen ihre Ehemänner und Freunde an der Front und verliebten sich in im Lande stationierte amerikanische Soldaten. Bin ich denn
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