Die Leopardin
den anderen erst im letzten Augenblick. Und jetzt hol sie schnell hier rein.«
Es dauerte nicht lange, und sie befanden sich wieder alle, eng zusammengerückt, in dem Abteil. Flick erläuterte ihren Plan. Zum Schluss fügte sie hinzu: »Sollte der Trick nicht funktionieren und ich werde verhaftet, dann greift auf gar keinen Fall zur Schusswaffe. Dazu sind viel zu viele Polizisten auf dem Bahnhof. Wenn ihr euch auf eine Schießerei einlasst, seid ihr verloren. Unsere Mission hat absoluten Vorrang. Überlasst mich meinem Schicksal, verlasst den Bahnhof, sammelt euch wieder im Hotel und macht weiter. Ruby wird in diesem Fall das Kommando übernehmen. Keine Diskussion mehr, dazu fehlt uns die Zeit.« Sie drehte sich zu Christian um. »Die Handschellen.«
Er zögerte.
Flick hätte ihn am liebsten angebrüllt: Nun mach schon, du großmäuliger Feigling! Stattdessen senkte sie die Stimme und raunte ihm vertraulich zu: »Sie retten mir das Leben, Christian. Ich werde Ihnen das nie vergessen.«
Endlich zog er die Handschellen hervor.
»Macht euch auf die Socken«, befahl Flick den anderen Frauen.
Christian schloss Flicks rechtes und Jean-Maries linkes Handgelenk mit den Handschellen zusammen. Dann stiegen sie aus dem Zug und marschierten zu dritt nebeneinander den Bahnsteig entlang. Christian trug Flicks Koffer und ihre Schultertasche mit der halbautomatischen Pistole darin. An der Kontrolle hatte sich eine Schlange gebildet. »Platz da!«, rief Jean-Marie. »Bitte machen Sie Platz, meine Damen und Herren! Lassen Sie uns durch!« Genau wie in Chartres steuerten sie direkt auf die Spitze der Schlange zu. Dort salutierten die Gendarmen vor den Gestapo-Offizieren, blieben jedoch nicht stehen.
Doch der Hauptmann, der für diese Kontrollstelle verantwortlich war, hob seinen Blick von den Papieren, die er gerade überprüfte, und sagte ruhig: »Warten Sie.«
Sie blieben alle drei stehen. Flick wusste, dass sie dem Tod jetzt sehr nahe war.
Der Hauptmann musterte sie von oben bis unten. »Das ist die Frau auf dem Steckbrief!«
Christian schien die Angst die Sprache verschlagen zu haben, und so war es Jean-Marie, der nach einer kurzen Pause die unausgesprochene Frage beantwortete: »Jawohl, mon capitaine, wir haben sie in Chartres verhaftet.«
Flick dankte dem Himmel dafür, dass wenigstens einer der beiden einen kühlen Kopf behalten hatte.
»Gut gemacht«, sagte der Hauptmann. »Aber wo bringen Sie sie jetzt hin?«
Wieder gab Jean-Marie die Antwort. »Unser Befehl lautet, sie in der Avenue Foch abzuliefern.«
»Brauchen Sie einen Wagen?«
»Ein Polizeifahrzeug wartet vor dem Bahnhof auf uns.«
Der Deutsche nickte, ließ sie aber immer noch nicht gehen. Unverwandt glotzte er Flick an, die schon fast glaubte, irgendetwas an ihrer Erscheinung hätte ihm den Trick verraten oder ihre Miene sage ihm, dass sie die Verhaftete bloß spielte. Doch dann schüttelte der Hauptmann ungläubig den Kopf und sagte: »Diese Engländer! Schicken die doch tatsächlich kleine Mädchen ins Gefecht.«
Jean-Marie hielt wohlweislich den Mund.
»Weitergehen!«, sagte der Hauptmann endlich.
Flick und die beiden Gendarmen passierten die Kontrolle und traten hinaus in den Sonnenschein.
Als Paul Chancellor von der Nachricht erfuhr, die Brian Standish gefunkt hatte, ärgerte er sich maßlos über Percy Thwaite, ja er schäumte geradezu vor Wut. »Sie haben mich angelogen!«, schrie er. »Sie haben ganz bewusst dafür gesorgt, dass ich nicht da war, bevor Sie das Flick gezeigt haben!«
»Das ist schon richtig, aber ich hielt es für das Beste .«
»Ich führe hier das Kommando – Sie haben kein Recht dazu, mir Informationen vorzuenthalten!«
»Ich dachte mir, Sie würden vielleicht den Flug absagen.«
»Hätte ich vielleicht auch. Oder zumindest hätte ich es tun sollen.«
»Aber Sie hätten es aus Liebe zu Flick getan, nicht aus operativen Gründen.«
Damit hatte er Chancellors wunden Punkt getroffen. Paul hatte sich und seine Funktion als Einsatzleiter kompromittiert, indem er mit einer Frau aus seinem Team geschlafen hatte. Er wusste es selber nur allzu gut – und war gerade deshalb besonders wütend gewesen. Umso schwerer fiel es ihm, seinen Zorn zu unterdrücken.
Mit Flicks Flugzeug konnten sie keinen Kontakt aufnehmen, denn bei Flügen über feindlichem Gebiet galt absolute Funkstille. Die beiden Männer hatten daher die ganze Nacht auf dem Flugplatz verbracht, waren ständig rauchend auf und ab gegangen, verbunden durch die
Weitere Kostenlose Bücher