Die Leopardin
gemeinsame Sorge um die Frau, die sie beide auf ihre Weise liebten. Paul trug in der Brusttasche seines Hemdes noch die hölzerne französische Zahnbürste, die Flick und er am Freitagmorgen nach der gemeinsamen Nacht benutzt hatten. Er war alles andere als abergläubisch, und doch tastete er immer wieder nach diesem Gegenstand, als würde er Flick selbst berühren und sich auf diese Weise vergewissern, dass sie wohlauf war.
Als das Flugzeug zurückkehrte und der Pilot ihnen berichtete, wie Flick beim Anblick des Empfangskomitees in Chatelle Verdacht geschöpft hatte und daraufhin in der Nähe von Chartres abgesprungen war, überkam Paul eine solche Erleichterung, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.
Kurz darauf hatte Percy einen Anruf aus dem Hauptquartier der SOE in London erhalten und erfahren, dass Brian Standish per Funk wissen wollte, was passiert sei. Paul beschloss, jene Antwort zu übermitteln, die Flick auf einen Zettel gekritzelt und dem Piloten mitgegeben hatte. War Brian noch auf freiem Fuß, so erfuhr er jetzt, dass die Dohlen woanders gelandet waren und sich mit ihm in Verbindung setzen würden. Auf weitere Informationen wurde verzichtet, weil man auch damit rechnen musste, dass Brian inzwischen der Gestapo in die Hände gefallen war.
Aber immer noch wusste niemand genau, was da draußen hinter den feindlichen Linien eigentlich vorgefallen war. Paul Chancellor fand diese Ungewissheit unerträglich. Flick musste unbedingt nach Reims gelangen, egal wie. Und er musste erfahren, ob die Gestapo ihr eine Falle gestellt hatte. Man musste doch irgendwie überprüfen können, ob Brians Botschaft echt war.
Die Morsezeichen trugen die korrekten Sicherheitskennungen. Auch Percy prüfte sie noch einmal. Allerdings wusste die Gestapo von der Existenz dieser Kennungen. Sie hätte Brian foltern und zur Herausgabe seiner eigenen zwingen können. Es gäbe noch subtilere Methoden, die Echtheit der Nachricht zu überprüfen, meinte Percy, aber dazu brauche man die Mädchen in der Abhörstation. Kaum hatte Paul davon erfahren, da beschloss er auch schon, die Station aufzusuchen.
Zunächst hatte Percy sich widersetzt. Es sei gefährlich für Einsatzleiter, sich auf die Ebene der Funkeinheiten herabzubegeben, behauptete er; es könne damit Sand ins Getriebe jener Abteilung geraten, die für die reibungslose Kommunikation mit Hunderten von Agenten zuständig war. Darauf gab Paul keinen Pfifferling. Er wandte sich an den Chef der Funkabteilung, der gerne bereit war, ihm einen Besuchstermin einzuräumen – vielleicht in zwei, drei
Wochen? Nein, hatte Paul erwidert, in zwei, drei Stunden schwebe ihm vor. Und dabei war er geblieben, sanft, aber beharrlich, und hatte am Ende mit der Androhung von Montys Zorn seine letzte Karte gezogen. Und so war er schließlich nach Grendon Underwood gekommen.
Als Paul Chancellor noch ein kleiner Junge gewesen war und zur Sonntagsschule ging, hatte er sich mit einem theologischen Problem herumgeschlagen: Ihm war aufgefallen, dass in Arlington im Bundesstaat Virginia, wo er mit seinen Eltern wohnte, die meisten Kinder seines Alters jeden Abend um die gleiche Zeit ins Bett gingen, nämlich um halb acht, und das bedeutete, dass sie alle zur gleichen Zeit ihr Abendgebet sprachen. Wie konnte der liebe Gott unter all diesen Stimmen, die gleichzeitig zum Himmel aufstiegen, heraushören, was er, Paul, ihm zu sagen hatte? Die Antwort des Pastors, der einfach behauptete, Gott könne eben alles, stellte den kleinen Paul nicht zufrieden. Er wusste, dass das nur eine Ausrede war. Die Frage ließ ihm jahrelang keine Ruhe.
Wäre ihm damals schon Grendon Underwood bekannt gewesen, dann hätte er nicht mehr nach der Antwort suchen müssen.
Ebenso wie der liebe Gott musste die Special Operations Executive unendlich viele Mitteilungen anhören, und nur allzu oft liefen Hunderte von ihnen gleichzeitig ein. So wie die Neunjährigen in Arlington, die alle um halb acht Uhr abends neben ihren Betten knieten und beteten, so saßen die Geheimagenten in ihren Verstecken und hämmerten alle gleichzeitig in die Tasten. Und die SOE hörte sie alle.
Auch Grendon Underwood war ein Herrenhaus auf dem Lande, das von seinen Bewohnern geräumt und vom Militär übernommen worden war. Offiziell Station 53a genannt, fungierte Grendon Underwood als Lauschposten. Auf dem weitläufigen Gutsgelände waren Funkantennen in bogenförmigen Gruppen aufgestellt, groß wie die Ohren Gottes, und fischten alle Funksprüche
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