Die Leopardin
wie rücksichtsloser Verhörspezialist. Wir müssen davon ausgehen, dass die beiden alles erzählen, was sie wissen. Sie werden auch die Adresse unseres Hotels verraten – die Gestapo kann demnach jeden Moment hier auftauchen. Wir müssen auf der Stelle verschwinden.«
Jelly weinte. »Arme Maude«, sagte sie. »Sie war zwar eine dumme Gans, aber die Folter hat sie nicht verdient.«
Greta hielt sich an praktische Fragen. »Wo gehen wir hin?«
»Gleich nach nebenan in das Kloster. Dort nehmen sie jeden auf. Ich habe schon mal entflohene Kriegsgefangene da versteckt. Bis Tagesanbruch lassen sie uns bleiben.«
»Und dann?«
»Dann gehen wir zum Bahnhof wie geplant. Diana wird diesem Franck unsere richtigen Namen, unsere Decknamen und unsere falschen französischen Namen verraten. Unter diesen Namen wird man uns zur Fahndung ausschreiben. Gott sei Dank habe ich für jede von uns Ersatzpapiere mitgenommen. Sie sind zwar mit den gleichen Fotografien versehen, führen aber andere Namen. Von euch dreien hat die Gestapo keine Bilder, und ich habe mein Aussehen verändert, deshalb können uns die Wachen an den Kontrollstellen nicht identifizieren. Aus Sicherheitsgründen gehen wir aber nicht, wie ursprünglich geplant, gleich bei Tagesanbruch zum Bahnhof, sondern warten bis ungefähr zehn Uhr. Um diese Zeit wimmelt es dort vor Menschen.«
Jelly bemerkte: »Diana wird auch verraten, was wir vorhaben.«
»Sie wird ihnen erzählen, dass wir den Eisenbahntunnel bei Maries sprengen wollen. Aber das ist zum Glück gar nicht unser Ziel, sondern nur die Tarngeschichte, die ich in Umlauf gesetzt habe.«
»Flick, du denkst aber auch an alles!«, sagte Jelly voller Bewunderung.
»Stimmt«, erwiderte sie düster. »Deshalb bin ich ja auch noch am Leben.«
Paul Chancellor saß schon seit über einer Stunde in der rostlosen Kantine von Grendon Underwood und machte sich Sorgen um Flick. Allmählich setzte sich bei ihm die Überzeugung durch, dass Brian Standish aufgeflogen war. Der Zwischenfall in der Kathedrale von Reims, die ungewöhnliche Totalverdunkelung im Weiler Chatelle und der merkwürdig fehlerfreie dritte Funkspruch – lauter Indizien, die in ein und dieselbe Richtung deuteten.
Nach dem ursprünglichen Plan hätten Flick und ihr Team in Chatelle von Michel Clairet und den anderen Überlebenden der Gruppe Bollinger abgeholt werden müssen. Michel sollte die Dohlen ein paar Stunden in einer konspirativen Wohnung verstecken und für ihre anschließende Fahrt nach Sainte-Cecile sorgen. Nach dem erfolgreichen Anschlag auf die Fernmeldezentrale im Schloss hätte Michel sie wieder nach Chatelle gebracht, wo sie nur noch auf das Abholflugzeug hätten warten müssen. Das alles war nun hinfällig geworden – und doch benötigte Flick nach ihrer Ankunft in Reims sowohl einen Unterschlupf als auch eine Transportmöglichkeit und würde sich auf die Unterstützung der Bollinger-Zelle verlassen. Wenn aber Brian inzwischen ausgeschaltet war – gab es dann überhaupt noch jemanden aus diesem Kreis? War das Versteck wirklich sicher? War etwa auch Michel schon der Gestapo in die Hände gefallen?
Endlich kam Lucy Briggs in die Kantine und sagte: »Mrs. Bevins hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass die Antwort von Helicopter gerade entschlüsselt wird. Würden Sie bitte mit mir kommen?«
Paul folgte ihr in das winzige Zimmer – früher war das wahrscheinlich ein Schuhschrank, dachte er –, das Jean Bevins als Büro diente. Sie hielt ein Blatt Papier in der Hand und wirkte verärgert. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie.
Paul las es rasch durch.
RUFSIGNAL HLCP (HELICOPTER) SICHERHEITSKENNUNG VORHANDEN
3. JUNI 1944
NACHRICHT LAUTET:
ZWEI STENS PLUS JE SECHS MAGAZINE STOP EIN LEE ENFELD PLUS ZEHN MAGAZINE STOP SECHS COLT AUTOMATIC PLUS ZIRKA EINHUNDERT SCHUSS STOP KEINE GRANATEN OVER
Paul starrte den entschlüsselten Funkspruch an, als hoffe er, unter seinen entsetzten Blicken würden die Worte ihren Schrecken verlieren, aber selbstverständlich taten sie das nicht.
»Ich habe mit einer sehr aufgebrachten Reaktion gerechnet«, sagte Jean Bevins. »Aber er beschwert sich nicht einmal! Er beantwortet Ihre Fragen wie ein braver Schulbub.«
»Genau«, sagte Paul. »Und das heißt, er ist es gar nicht selber.« Der Funkspruch stammte nicht von einem gejagten Agenten im Feld, den seine bürokratischen Vorgesetzten aus heiterem Himmel mit einer völlig abwegigen Anfrage belämmerten. Die Antwort war vielmehr von einem
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