Die Leopardin
Gassen, in denen clochards hinter Mülltonnen schlafen konnten und von der Polizei ignoriert wurden.
Flick kannte drei mögliche Verstecke: Michels Haus in der Stadt, Gilbertes Wohnung und das Haus von Mademoiselle Lemas in der Rue du Bois. Bedauerlicherweise musste man aber damit rechnen, dass alle drei von der Gestapo überwacht wurden – je nachdem, wie weit die Deutschen die Bollinger-Zelle mittlerweile infiltriert hatten. Wenn dieser Dieter Franck die Ermittlungen leitete, war das Schlimmste zu befürchten.
Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die drei konspirativen Wohnungen selbst zu überprüfen. »Wir müssen uns wieder in Zweiergruppen aufteilen«, sagte sie zu den anderen. »Vier Frauen auf einmal sind zu auffällig. Ruby und ich gehen voran. Greta und Jelly, ihr folgt uns im Abstand von hundert Metern.«
Michels Haus lag in Bahnhofsnähe und war daher ihr erstes Ziel. Seit ihrer Hochzeit war es auch Flicks Heim, doch in Gedanken bezeichnete sie es immer noch als »Michels Haus«. Dort gab es Platz genug für vier Frauen – nur war es der Gestapo mit großer Wahrscheinlichkeit bekannt: Es wäre einem Wunder gleichgekommen, wenn wirklich keiner der Partisanen, die am vergangenen Sonntag gefangen genommen worden waren, unter der Folter die Adresse preisgegeben hätte.
Das Haus lag in einer verkehrsreichen Straße mit zahlreichen Geschäften. Vom Bürgersteig aus warf Flick einen verstohlenen Blick in jedes geparkte Auto, während Ruby sich um die Häuser und Läden kümmerte. Michels Besitz war ein hohes, schmales Gebäude in einer eleganten Häuserzeile aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es hatte einen kleinen Vorgarten, in dem eine Magnolie stand. Alles war still und ruhig, nichts rührte sich hinter den Fenstern. Auf der Eingangsstufe hatte sich Staub angesammelt.
Bei ihrem ersten Gang durch die Straße nahmen sie nichts Verdächtiges wahr: Keine Arbeiter, die die Straße aufgruben, keine aufmerksam beobachtenden Müßiggänger an den Tischchen vor der Bar Chez Regis, keinen Zeitungsleser, der an einem Telegrafenmasten lehnte.
Sie gingen auf der anderen Straßenseite zurück. Vor der Bäckerei stand ein schwarzer Citroen Traction Avant. Auf den Vordersitzen saßen zwei Männer in Anzügen und rauchten Zigaretten. Sie schienen sich offensichtlich zu langweilen.
Flick wurde nervös. Sie trug die dunkle Perücke und war sich ziemlich sicher, dass man sie nicht auf den ersten Blick mit der Gesuchten auf dem Steckbrief identifizieren würde. Dennoch beschleunigte sich ihr Puls, als sie mit schnellen Schritten an dem Wagen vorbeiging, und sie fürchtete, dass jeden Augenblick hinter ihr Befehle ertönen könnten, die sie zum Stehenbleiben aufforderten. Doch es blieb alles still, und dann bog sie mit Ruby um die nächste Ecke und konnte wieder aufatmen.
Sie gingen jetzt langsamer. Flicks Befürchtungen hatten sich bestätigt: Michels Haus kam als Quartier nicht infrage. Da es zu einer Häuserzeile gehörte, an deren Rückseite keine andere Straße entlangführte, besaß es nicht einmal einen Hintereingang. Die Dohlen konnten es also nicht betreten, ohne von der Gestapo dabei gesehen zu werden.
Flick erwog die beiden anderen Möglichkeiten, die ihr blieben. Wenn Michel noch auf freiem Fuß war, wohnte er vermutlich nach wie vor bei Gilberte. Das Gebäude, in dem sich das Appartement befand, hatte einen praktischen Hintereingang. Aber die beiden Zimmer waren für sechs Personen äußerst klein – ganz abgesehen davon, dass vier Übernachtungsgäste bei anderen Hausbewohnern vielleicht Verdacht erregt hätten.
Der geeignetste Platz zum Übernachten war zweifellos das Haus in der Rue du Bois. Flick war schon zweimal dort gewesen. Es war ein großes Gebäude mit vielen Schlafzimmern. Mademoiselle Lemas war absolut zuverlässig und fütterte unangemeldete Gäste nur allzu gerne durch. Seit Jahren bot sie immer wieder britischen Agenten, abgeschossenen Piloten und entflohenen Kriegsgefangenen Zuflucht. Und vielleicht wusste sie sogar, was aus Brian Standish geworden war.
Das Haus lag zwei oder drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Wie bisher, in zwei Paaren mit hundert Metern Abstand voneinander, machten sich die Dohlen auf den Weg.
Eine halbe Stunde später erreichten sie ihr Ziel. Die Rue du Bois war eine stille Vorortstraße, die Beobachtern kaum Deckung bot. Ein einziges parkendes Fahrzeug war zu sehen. Es handelte sich um einen biederen Peugeot 201, der der Gestapo viel zu langsam war.
Weitere Kostenlose Bücher