Die Leopardin
wollte Thwaite wissen. Die Adresse am Orchard Court galt als geheim.
»Er war erst in der Baker Street 64, und dort hat man ihn dann hier hergeschickt.«
»Was sie eigentlich unterlassen sollten. Der Mann muss sehr überzeugend wirken. Um wen handelt es sich?«
»Um Major Chancellor.«
Percy warf Flick einen Blick zu. Sie kannte niemanden dieses Namens. Doch dann fiel ihr der arrogante Major ein, der sie am Vormittag in Montys Hauptquartier so heruntergeputzt hatte. »O je, ausgerechnet der«, sagte sie angewidert. »Was will der denn hier?«
»Schicken Sie ihn rein!«, sagte Percy zu seiner Sekretärin.
Kurz darauf betrat Paul Chancellor das Büro. Sein leichtes Hinken war Flick am Morgen gar nicht aufgefallen – wahrscheinlich verstärkte es sich im Laufe des Tages. Er hatte ein angenehmes amerikanisches Gesicht mit einer großen Nase und einem leicht vorspringenden Kinn. Als gut aussehenden Mann konnte man ihn trotzdem nicht bezeichnen – das verhinderte allein schon sein linkes Ohr, beziehungsweise das, was von ihm übrig war, das untere Drittel nämlich. Wahrscheinlich eine Kriegsverletzung, dachte Flick.
Chancellor salutierte und sagte: »Guten Abend, Colonel. Guten Abend, Major.«
»Wir haben’s hier bei der SOE nicht so mit dem Salutieren, Chancellor«, sagte Percy. »Bitte nehmen Sie Platz. Was führt Sie zu uns?«
Chancellor rückte sich einen Stuhl zurecht und nahm die Uniformmütze ab. »Bin froh, dass ich Sie beide erwischt habe«, sagte er. »Ich habe den Tag nämlich weitgehend damit zugebracht, über unser Gespräch heute Vormittag nachzudenken.« Er grinste verlegen. »Und der größte Teil der Zeit ging, wie ich gestehen muss, dafür drauf, dass ich mir witzig-niederschmetternde Kommentare zurecht formulierte, die ich hätte von mir geben können – wenn sie mir nur rechtzeitig eingefallen wären.«
Flick konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihr war es nicht viel anders ergangen.
»Colonel Thwaite«, fuhr Chancellor fort, »Sie deuteten an, dass der MI6 nicht die ganze Wahrheit über den Angriff auf die Fernmeldezentrale berichtet haben könnte, und das ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Der Umstand, dass Major Clairet so unverschämt zu mir war, bedeutet nicht unbedingt, dass sie, was die Fakten angeht, gelogen hat.«
Flick hatte ihm schon halb verziehen, doch das ging zu weit. »Unverschämt?«, fuhr sie auf. »Ich?«
»Halt die Klappe, Flick!«, sagte Percy.
Sie schwieg.
»Also habe ich Ihren Bericht angefordert, Colonel. Nein, nicht ich persönlich, das Ersuchen lief natürlich über Montys Büro. Daher wurde der Bericht auch doppelt so schnell wie üblich von einer FANY-Kradmelderin bei uns im Hauptquartier abgeliefert.«
Ein Typ, der nicht mit sich spaßen lässt und genau weiß, wie er die Militärmaschinerie zum Spuren bringt, dachte Flick. Kann schon sein, dass er ein arroganter Pinsel ist – aber bestimmt wäre er auch ein nützlicher Verbündeter.
»Nach der Lektüre war mir klar, dass der Hauptgrund für die Niederlage in falschen Geheimdienstinformationen zu suchen ist.«
». und die kamen vom MI6«, ergänzte Flick empört.
»Ja, das ist mir nicht entgangen«, sagte Chancellor mit sanftem Sarkasmus. »Der MI6 hat dabei offenbar seine eigene Inkompetenz vertuscht. Ich selbst bin kein Berufsoffizier, aber mein Vater ist einer. Die Tricks der Militärbürokraten sind mir daher bestens vertraut.« »Oha«, sagte Percy Thwaite nachdenklich. »Sind Sie etwa der Sohn von General Chancellor?«
»Der bin ich, ja.«
»Fahren Sie fort.«
»Der MI6 wäre niemals ungeschoren davongekommen, wenn Ihr Boss an dem Treffen heute Vormittag teilgenommen und die SOE- Version der Geschichte erzählt hätte. Dass er in letzter Minute daran gehindert wurde, erschien mir ein bisschen zu zufällig.«
Thwaite sah ihn skeptisch an. »Er wurde zum Premierminister gerufen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie der MI6 das hätte arrangieren sollen.«
»Churchill nahm an dem Treffen gar nicht teil. Ein Downing- Street-Beamter führte den Vorsitz. Und dass es auf Initiative des MI6 zustande kam, ist erwiesen.«
»Hol sie doch der Teufel«, sagte Flick wütend. »Eine einzige Schlangengrube, dieser Verein!«
»Mir wär’s lieber, sie wären beim Sammeln von Informationen genauso clever wie beim Austricksen der eigenen Kollegen«, kommentierte Percy.
Chancellor sagte ungerührt: »Außerdem habe ich mir Ihren Plan, das Schloss mit einer List zu knacken, also mithilfe eines als
Weitere Kostenlose Bücher