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Die Leopardin

Titel: Die Leopardin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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schweren Bombenschäden gezeichneten Hafenanlagen und vorbei an den Mietskasernen von Bermondsey und Rotherhithe. Dann bog sie in die Old Kent Road ein, die alte Pilgerstraße nach Canterbury. Nachdem sie die letzten Ausläufer der
    Stadt hinter sich gelassen hatte, gab sie Gas und jagte mit Höchstgeschwindigkeit durch die Nacht. Der Fahrtwind fuhr ihr durchs Haar und blies vorübergehend alle Sorgen fort.
    Es war noch nicht einmal sechs Uhr, als sie Somersholme erreichte, den Landsitz der Barone von Colefield. Flick wusste, dass sich der Baron selbst, William, gerade in Italien befand und im Begriff war, sich mit der Achten Armee nach Rom durchzuschlagen. Seine Schwester, die Ehrenwerte Diana Colefield, war das einzige Mitglied der Familie, das im Augenblick noch hier lebte. Das riesige Haus mit Dutzenden von Schlafzimmern für Gäste und deren Bedienstete wurde zurzeit als Erholungsheim für verwundete Soldaten genutzt.
    Im Schritttempo fuhr Flick die Allee aus hundertjährigen Linden entlang, die zum Herrenhaus hinaufführte, einem großen Komplex aus rosafarbenem Granit mit Erkern, Balkonen, Giebeln und Dächern, mit unendlichen Fensterflächen und Dutzenden von Kaminen. Sie stellte das Motorrad auf dem kiesbedeckten Vorplatz ab, wo bereits ein Krankenwagen und mehrere Jeeps parkten.
    In der Eingangshalle liefen Krankenschwestern mit Teetassen hin und her. Die Soldaten mochten zur Erholung hier sein – geweckt wurden sie trotzdem im Morgengrauen. Flick erkundigte sich nach Mrs. Riley, der Wirtschafterin, wurde in den Keller geschickt und fand die Gesuchte dort in Begleitung zweier Männer in Arbeitskitteln. Sie sah den Ofen an und wirkte sehr besorgt.
    »Hallo, Mama«, sagte Flick.
    Ihre Mutter schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. Sie war noch kleiner als ihre Tochter und genauso dünn – und genau wie Flick war sie stärker, als sie aussah. Die Umarmung nahm Flick beinahe den Atem. Schnaufend und gleichzeitig lachend entwand sie sich der mütterlichen Umklammerung. »Mama, du erdrückst mich!«
    »Ich weiß nie genau, ob du noch am Leben bist – es sei denn, du stehst vor mir«, erwiderte ihre Mutter, in deren Stimme immer noch die Spur eines irischen Akzents mitschwang: Vor fünfundvierzig Jahren war sie mit ihren Eltern von Cork nach England übergesiedelt.
    »Stimmt was nicht mit dem Ofen?«, fragte Flick.
    »Für so viel heißes Wasser war er nie vorgesehen. Diese Schwestern sind geradezu Sauberkeitsfanatikerinnen. Sie zwingen die armen Soldaten, täglich ein Bad zu nehmen. Komm mit mir in die Küche, ich mach dir ein Frühstück.«
    Flick hatte es eilig, nahm sich aber bewusst Zeit für ihre Mutter. Außerdem musste sie ohnehin etwas essen.
    Mutter ging voran, Flick folgte ihr. Sie stiegen die Treppe hinauf und begaben sich in den Dienstbotenflügel.
    Flick war in diesem Haus aufgewachsen. Sie hatte in der Gesindestube gespielt, war durch die Wälder gestromert, hatte die anderthalb Kilometer entfernte Dorfschule besucht und war in den Internats- und Universitätsferien immer wieder hierher zurückgekehrt. Sie hatte großes Glück gehabt: Die meisten Frauen in Positionen wie der ihrer Mutter wurden nach der Geburt eines Kindes gezwungen, ihre Stellung aufzugeben. Mama hatte bleiben dürfen – teils, weil der alte Baron in mancher Hinsicht recht unkonventionell war, hauptsächlich aber, weil sie eine so gute Wirtschafterin war, dass ihn allein der Gedanke, sie zu verlieren, in Angst und Schrecken versetzte. Flicks Vater war der Butler gewesen, starb aber, als seine Tochter gerade erst sechs Jahre alt war. Jedes Jahr im Februar hatten Flick und ihre Mutter die Familie in ihre Villa in Nizza begleitet, und dort hatte Flick auch Französisch gelernt.
    Der alte Baron, der Vater von William und Diana, hatte Flick sehr gemocht und sie dazu ermuntert, eine höhere Schulbildung anzustreben. Sogar das Schulgeld hatte er ihr bezahlt, und als sie das Stipendium für die Universität Oxford gewann, war er sehr stolz auf sie gewesen. Als er kurz nach Ausbruch des Krieges starb, hatte Flick um ihn getrauert, als wäre er ihr leiblicher Vater gewesen.
    Die Familie des Barons bewohnte mittlerweile nur noch einen kleinen Teil des großen Hauses. Der alte Anrichteraum des Butlers diente nun als Küche. Flicks Mutter setzte den Kessel auf den Herd. »Eine Scheibe Toast reicht mir, Mama«, sagte Flick.
    Mrs. Riley überhörte die Bemerkung und legte Speck in die Pfanne. »Du bist offenbar wohlauf, mein Kind«,

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