Die Leopardin
weniger fromm als der Durchschnittsdeutsche –, aber gewiss auch kein Agnostiker. In einer Umgebung, die seit Hunderten von Jahren als heilige Stätte galt, Spione fangen zu müssen war ihm alles andere als angenehm.
Er schüttelte die Bedenken ab. Aberglaube...
Er wandte sich dem südlichen Seitenschiff zu und ging dort durch den langen Gang; seine Schritte hallten auf dem Steinboden wider. Vom Querschiff aus sah er das Tor und das Gitter vor den Stufen, die in die unter dem Hochaltar liegende Krypta hinab führten. Dort unten ist Stephanie, dachte er, und sie trägt einen schwarzen und einen braunen Schuh. Von seinem augenblicklichen Standpunkt bot sich ihm freies Blickfeld in beide Richtungen: sowohl in die, aus der er gekommen war, also in das südliche Seitenschiff, als auch nach vorne auf den Chorumgang bis zum anderen Ende des Gotteshauses. Er kniete nieder und faltete die Hände zum Gebet.
»O Herr«, sagte er, »vergib mir das Leid, das ich meinen Gefangenen antue. Du weißt, dass ich nur nach bestem Wissen meine Pflicht erfülle. Und vergib mir meine Sünde mit Stephanie. Ich weiß, dass es falsch ist, aber Du hast sie so schön und liebenswert gemacht, dass ich der Versuchung nicht widerstehen kann. Bitte beschütze meine liebe Waldtraud, hilf ihr bei ihrer Sorge um Rudi und die kleine Mausi, und verschone sie vor den Bomben der Royal Air Force. Und steh Feldmarschall Rommel bei, wenn die Invasion beginnt. Gib ihm die Kraft, die Alliierten ins Meer zurückzutreiben.
Viele Wünsche und nur ein so kurzes Gebet – aber Du weißt, dass ich zurzeit sehr viel zu tun habe. Amen.«
Er sah sich um. Ein Gottesdienst fand gerade nicht statt, aber eine Hand voll Menschen hielt sich dennoch in der Kathedrale auf. Sie beteten oder saßen einfach nur in der geweihten Stille auf den Stühlen und in den Seitenkapellen. In den Gängen liefen ein paar Touristen herum, bogen die Hälse, um das gewaltige Gewölbe zu bewundern, und unterhielten sich flüsternd über die mittelalterliche Architektur.
Falls sich tatsächlich noch ein Agent der Alliierten zeigen sollte, so hatte Dieter Franck nichts weiter vor, als ihn zu beobachten und darauf zu achten, dass nichts schief ging. Verlief alles optimal, stand ihm ein ruhiger Nachmittag bevor: Stephanie würde mit dem Agenten reden, ihn an der Parole erkennen und dann ins Haus in der Rue du Bois bringen.
Was danach geschehen sollte, war ihm noch nicht so klar. Irgendwie würde der Agent ihn zu anderen Agenten oder Resistance-Mitgliedern führen. Irgendwann war dann der entscheidende Durchbruch fällig – sei es, dass jemand so unklug war, eine Liste mit Namen und Adressen bei sich zu tragen, oder dass ein Funkgerät mit einem Verzeichnis der Codes in seine, Francks, Hände fallen würde. Vielleicht gelang es ihm sogar, eine Person wie Felicity Clairet zu verhaften, die unter der Folter die halbe Resistance verpfeifen würde.
Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten nach drei. Wahrscheinlich kam heute doch niemand.
Als Dieter Franck wieder aufblickte, entdeckte er zu seinem Entsetzen Willi Weber.
Was, zum Teufel, hatte denn der hier zu suchen?
Weber war in Zivil gekommen; er trug seinen grünen Lodenanzug. Begleitet wurde er von einem jüngeren Gestapo-Beamten mit einer Jacke im Karomuster. Die beiden kamen von der Ostseite der Kirche her und schritten durch den Chorumgang auf Franck zu, hatten ihn bisher aber noch nicht gesehen. Vor dem Tor zur Krypta blieben sie stehen.
Dieter Franck unterdrückte einen Fluch. Jetzt stand alles auf dem Spiel. Fast hoffte er, dass sich heute kein britischer Agent mehr blicken ließ.
Durch den Gang im südlichen Seitenschiff kam ein junger Mann mit einem kleinen Koffer. Franck kniff die Augen zusammen: Die meisten Menschen in der Kirche waren älter. Der Neuankömmling trug einen abgewetzten blauen Anzug in französischem Schnitt, sah aber mit seinen roten Haaren, den blauen Augen und der blassrosa Haut eher aus wie ein Wikinger. Eine seltsame Kombination, die englisch wirkte, aber ebenso gut deutsch sein mochte. Auf den ersten Blick hätte man den jungen Mann für einen Offizier in Zivil halten können, der sich die Sehenswürdigkeiten in der Kirche ansehen wollte oder gar zum Beten gekommen war.
Doch sein Verhalten verriet ihn. Er schritt sehr zielstrebig durch den Gang und hatte dabei weder Augen für die Säulen wie ein Tourist, noch suchte er sich einen Platz wie ein frommer Beter. Francks Herzschlag beschleunigte sich. Ein Agent an
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