Die Letzte Arche
verschwundene Zukünfte. Wir haben uns nie mit der Welt um uns herum befasst, nicht einmal durch Romane.«
»Niemand hat Romane über die Flut geschrieben«, betonte Venus. »Dafür waren alle viel zu beschäftigt, verdammt nochmal. Der Punkt ist wohl eher, Holle, dass du und ich nie Kinder hatten, weder bevor noch nachdem wir die Erde verlassen haben.«
Holle zuckte die Achseln. »Stimmt. Ich denke manchmal, dass ich nie über Mel hinweggekommen bin. Und dann war da diese seltsame Geschichte mit Zane. Danach hatte ich immer das Gefühl, ich hätte zu viel zu tun.«
»Ja. Was mich betrifft, so sind meine Schüler meine Kinder.«
»Das sind Ausreden«, sagte Grace sanft. »Ihr wart Kandidatinnen. Ihr seid in dem Wissen aufgewachsen, dass es eure Pflicht sein würde, Kinder zu kriegen, eure Gene weiterzugeben. Aber ihr habt es nicht getan. Auf einer bestimmten Ebene habt ihr beide bewusst entschieden, es nicht zu tun, aus welchem Grund auch immer.«
»Vielleicht hatte ich Angst«, sagte Holle. »Angst vor einer solchen Verpflichtung.«
»Kinder zu haben und zu wissen, dass du sie nicht retten kannst.«
»So ähnlich, ja.«
»Ich wüsste gern, ob du deinen gegenwärtigen Job machen könntest, Holle«, sagte Venus kühl, »wenn eines deiner eigenen Kinder von deinen Entscheidungen betroffen wäre. Wenn es in deinem Wasserreich leben würde.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Holle aufrichtig. »Ich denke, Kelly Kenzie hätte es gekonnt. Sie war immer die Beste von uns, stimmt’s? Mit wem war sie vor der Aufteilung noch gleich zusammen? «
»Mit Masayo Saito.«
»Ja. Sie wollte Kinder mit ihm. Vielleicht hat sie inzwischen welche. Und wenn die Aufteilung nicht gewesen wäre, hätte sie vielleicht Kinder mit Wilson gehabt. So oder so, sie wäre auch als Mutter fähig gewesen, weiterhin ihre Aufgaben zu erfüllen, denke ich.«
»Und sie hätte Wilson besser in Schach gehalten.«
»Ja. Sie hätte ihre Sache besser gemacht als jede von uns.«
»Man kann nur sein Bestes tun«, sagte Grace zu Holle. »Kelly ist nicht hier; sie ist schon lange fort. Wir können nur bis zum Schluss weitermachen …«
Ein Alarmsignal ertönte, ein leises Summen, und einer von Venus’ Monitoren blinkte rot. Sie drehte sich um und tippte auf eine Taste. »Oh, Scheiße.«
Holle beugte sich vor. »Was ist?«
»Ein Abschiedsbrief. Von Zane. Er sagt, er will kein – Moment – kein ›nutzloser Verbraucher von Ressourcen‹ sein.«
Grace schüttelte den Kopf. »Das ist Zane 3. Er hat das schon mal gemacht. Die anderen Alter Egos überwältigen ihn.«
»Der hier ist von einem Komitee unterschrieben. Jerry, Zane 2, Zane 3, jemand namens Leonard, Christopher und …«
Grace schnallte sich los und stieß sich von ihrem Sitz ab. Venus öffnete bereits die Luftschleuse.
92
Helen Gray saß auf heißem, prickelndem Sand.
Der Strand, strukturiert von Dünen und Wellenmustern im Sand, erstreckte sich so weit das Auge reichte. Vor ihr lag eine weitere halb unendliche Ebene, ein Meer, das bis zu einem messerscharfen Horizont reichte. Der Himmel war eine blaue Kuppel, und darin, direkt vor ihr, war ein Stern – nein, das Wort hieß »Sonne« –, eine Lichtscheibe, so wie die Bogenlampen im Modul. Sie wärmte ihr das Gesicht, blendete sie und ließ die Wellen glitzern. Das Kind, das vor ihr spielte, warf im Sonnenlicht einen Schatten.
Mario, vier Jahre alt, mit einem ausgeleierten alten Erwachsenen-T-Shirt bekleidet, planschte in der Brandung. Er jauchzte jedes Mal auf, wenn das Wasser über seine Zehen spülte. Er sah aus, als fühlte er sich hier ganz zu Hause. Doch wenn er am Strand entlanglief, war sein Gang unbeholfen, ein babyhaftes Scharren am Boden. In diesen Planetensimulationen musste man laufen, das war Holles Vorschrift. Auf der Erde III würden die Kinder laufen müssen; hier sollten sie lernen, wie das ging, und der HeadSpace-Anzug zwang sie dazu. Aber die Simulation konnte die Auswirkungen der Schwerkraft nicht simulieren, und darum war das ganze Erlebnis unvollständig.
Ein Stück weiter am Strand saß Max Baker mit einem anderen Kind, dem fünfjährigen Diamond, den er mit Magda
Murphy gezeugt hatte. Max redete unablässig mit seinem Sohn, ermutigte ihn, herumzulaufen und im Wasser zu planschen. Helen sah es gern, wenn Max so war. Es hatte ihn viel gekostet, über den Verlust seiner Zwillingsschwester während des Blow-outs wegzukommen, so wie es auch Magda schwergefallen war, den Verlust ihres Babys zu verkraften. Wie
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