Die Letzte Arche
war ein trüber, bewölkter, aber warmer und feuchter Tag. Kein typischer Mittsommertag in Colorado, sagten die Alteingesessenen, aber schließlich war kein Tag mehr typisch. Das Capitol sah reichlich heruntergekommen aus, der helle Stein gestreift vom jahrelangen schmutzigen Regen, aber an Masten zu beiden Seiten hingen zwei große Sternenbanner, die in der unbeständigen Brise flappten. Holle schaute auf den Park zurück, der durch Zäune von den Regierungsgebäuden drumherum getrennt war. Man hatte mit Marmorplatten gepflasterte Wege
aufgegraben, um bloßes Erdreich freizulegen, und zerlumpte Parkbewohner arbeiteten an Reihen von Kartoffelbeeten. Kartoffeln waren den offiziellen Empfehlungen der Regierung zufolge das Nahrungsmittel der Flut.
Holle, die in der Menge stand, fühlte sich unwohl in ihrer farbigen Uniform; sie war sich der missgünstigen Blicke der Umstehenden bewusst. Die Kandidatinnen und Kandidaten wurden allmählich zu so etwas wie Berühmtheiten, selbst bei den anderen Arche-Mitarbeitern. Obwohl Hunderte in diversen Bereichen des Projekts tätig waren, beispielsweise draußen auf dem riesigen Baugelände bei Gunnison, wussten nur wenige, dass es einzig und allein um den Bau eines Sternenschiffs ging. Dennoch war klar, dass die Kandidaten auf irgendein großes Abenteuer vorbereitet wurden. Nur wenige Menschen in Denver führten noch ein von Aufstiegserwartungen geprägtes Leben, und vielen bereitete es Vergnügen, die Aktivitäten der Kandidaten zu verfolgen, ihre Höhen und Tiefen, als wären sie Figuren in einer Realityshow. Manche Kandidaten spielten dabei mit. Kelly und Don wetteiferten um die Zahl der Zugriffe auf ihre Blogs. Aber die Kehrseite der Medaille waren Missgunst und Neid.
Holle kannte viele der Gesichter um sich herum, darunter jene der reichen Männern und Frauen von LaRei, die zum Teil selbst Eltern von Akademieschülern waren. Die Eltern standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich mit ernsten Mienen. Es waren größtenteils Väter; die Kandidaten hatten festgestellt, dass viele von ihnen aus mutterlosen Familien kamen, wie Holle, Kelly und Zane. Vielleicht träumten nur Väter davon, ihre Kinder in den Weltraum zu schießen. Edward Kenzie, Kellys Vater, war jedoch nicht dabei. Holle hatte Gerüchte gehört, dass er viel Zeit im Yellowstone Park verbrachte und ein
anderes Archen-Projekt verfolgte – Arche Zwei vielleicht. Doch wenn Kelly etwas darüber wusste, so sagte sie es nicht. Die Geheimnistuerei war allgegenwärtig, wie eine Krankheit.
Holles Vater entdeckte seine Tochter. Er drückte sie kurz an sich. »Hallo, mein Schatz.« Er wirkte müde und gereizt. Aber so sah er schließlich immer aus.
»Hast du eine Ahnung, was los ist, Dad?«
»Ich bin gerade aus einer Konferenz geholt worden, und dann habe ich dich angerufen.«
»Wenn irgendwas ist, solltest du darüber Bescheid wissen.«
Patrick schüttelte den Kopf. Hinter dem Podium entstand Bewegung. »Ich schätze, wir werden’s gleich erfahren.«
Auf einmal war dies ein entscheidender Tag, ein außergewöhnlicher Augenblick. Holle spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen zusammenzog. Ständig der Möglichkeit des Hinauswurfs gewärtig, lebte man als Kandidatin mit einer gewissen Angst und mochte keine Überraschungen.
Ein Anzugträger aus dem Mitarbeiterstab der Regierung trat ans Podium. »Meine Damen und Herren«, sagte er schlicht, »die Präsidentin der Vereinigten Staaten.«
Linda Vasquez kam nach vorn, steckte ein Handy in die Tasche und schaute dabei zugleich auf ihre Armbanduhr. Sie warf dem Militär rechts von ihr einen Blick zu. »Ist alles abgesperrt, Gordo? Kann ich offen sprechen?«
»Korrekt, Ma’am.«
»Gut.« Sie schaute sich mit finsterem Blick um. Vasquez war eine korpulente Frau; auf Holle wirkte sie kraftvoll und alterslos. Sie hatte das Präsidentenamt fast schon seit vier Amtszeiten inne, drei Jahre länger, als Holle überhaupt auf dieser Welt weilte. Gerüchten zufolge plante sie, sich bei den Wahlen in diesem
Herbst um eine fünfte zu bewerben. Als Vasquez sprach, hatte ihre Stimme immer noch den singenden Tonfall der New Yorker Alphabet-City-Slums, in denen sie aufgewachsen war und die bereits während ihrer ersten Amtszeit im Wasser versunken waren.
»Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin. Und wenn ich mich so umschaue, dann weiß ich auch, wer Sie sind. Dies ist Arche Eins, stimmt’s? Sie sind die Gruppe, die vorhat, mit einem waschechten Raumschiff hier von
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