Die letzte Aussage
sehe ich, sobald wir die Treppe hoch sind. Die Böden bestehen aus abgezogenen Dielen und an den Wänden sind ungewöhnliche Farben. Blautöne, verschiedene Graus und so ein matschiges Braun … Es sieht besser aus, als es sich anhört … An der Wand hängen ein paar echt coole, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos, von Sängern, meistens von Musikern. Ein paar Gesichter kenne ich, die meisten nicht.
Er legt Helm und Jacke auf den Boden, und ich sehe gleich, dass da ein leuchtend rosafarbener Mantel aneinem Kleiderhaken hängt. Und daneben ein violetter. Außerdem steht eine Vase mit gelben Blumen auf einem kleinen Tisch. Also ist mein Dad entweder verheiratet oder er lebt mit einer Freundin zusammen oder er ist eine Mischung aus schwul und Transvestit. Andere Möglichkeiten fallen mir nicht ein.
»Du kannst ihn jetzt abnehmen«, sagt er, und mir wird klar, dass ich wie ein Astronaut aussehen muss, der einen feindlichen Planeten erforscht. Eigentlich wäre es nicht schlecht, wenn ich den Helm aufbehalten könnte.
Er macht die Tür zu einer großen, hellen Küche auf. Die Schränke glänzen kastanienbraun. Die Arbeitsfläche ist aus rostfreiem Stahl. Es gibt einen großen Tisch aus hellem Holz und noch eine Vase mit Blumen drin – dicke violette Puschel gemischt mit riesigen weißen Dingern mit Orange in der Mitte. Das hier sind richtige Blumen, nicht die erbärmlichen Sträuße, die man im Supermarkt mitnimmt. Natürlich beeindrucken mich solche Mädchensachen wie Blumen, erstklassige iPod-Dockingstationen und glänzende Kaffeemaschinen überhaupt nicht.
Mein Dad hat sich eine Zigarette angezündet, raucht sie aber, genau wie Archie, indem er die Hand aus dem offenen Fenster hält.
»Ich versuche immer, damit aufzuhören«, sagt er. »Rauchst du? Kannst dir ruhig eine nehmen.«
Ich werfe ihm einen von Grans Blicken zu. »Entschuldige«, sagt er. »Eigentlich sollte ich dir einen Vortrag über die Gefahren des Rauchens halten, stimmt’s? Du musst ein bisschen Geduld mit mir haben … bis ich mich darangewöhnt habe, das Richtige zu sagen …« Seine Stimme bricht ab, er drückt die halb gerauchte Zigarette aus und wirft sie aus dem Fenster, was kein besonders gutes Beispiel für mich ist, aber ich sage nichts dazu.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich trete verlegen von einem Bein aufs andere, und er sagt: »Setz dich doch. Ich stelle Wasser auf. Trinkst du Kaffee?«
»Lieber Tee«, antworte ich und setze mich an den Tisch, betrachte die Blumen und frage mich, wer sie wohl dort hingestellt hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht mein Dad gewesen ist. Er selbst sieht nämlich eher schlampig aus, trägt zerrissene Jeans zur Motorradjacke und unter der Jacke einen ausgeleierten schwarzen Pullover. Ich kann ihn mir nicht vorstellen, wie er herumschwuchtelt und die Wohnung mit Blumen dekoriert. Er folgt meinem Blick. »Eine dankbare Kundin«, sagt er und füllt den Wasserkessel an der Spüle. Hört sich nicht nach Drogen an. Aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, welche Kunden sich bei einem abgerissenen Typen mit einem Blumenstrauß bedanken. Irgendwie ist das alles ziemlich schräg.
Die einzigen Leute, die ich von »Kunden« habe reden hören, waren die Tätowierer in dem Laden, wo ich meinen Putzjob hatte, und die Mädels aus dem Massagesalon gleich nebenan. Er ist doch wohl kein Nageldesigner. Oder? Hmmm … Na ja, ich werde es noch früh genug erfahren. Und mit meinen Vermutungen liege ich ja öfter mal daneben.
Er stellt eine Tasse Tee vor mich, ich frage nach Zucker,und er sagt: »Du siehst furchtbar aus. Hast du dich geprügelt?« Ich hätte fast gelacht, denn in der letzten Zeit habe ich kaum etwas anderes getan, aber ich beherrsche mich, lasse den Kopf sinken und murmele: »Ja … ein bisschen …«
»Ein bisschen? Du hast ein blaues Auge und dein Gesicht ist zerschnitten. Was war da los?«
Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu. Er sieht echt besorgt aus, richtig beunruhigt. Aber das ist der Kerl, der meine Mum ins Krankenhaus befördert hat. Er ist jemand, der Frauen schlägt. Er muss noch eine ganz andere Seite haben, eine unheimliche, gewalttätige Seite. So wie ich, als ich damals Joe war. Oder als ich Arron verletzt, Carl ins Gesicht geschlagen und Claire wehgetan habe.
Ich sehe immer noch Claires Gesicht vor mir, als ich sie an den Handgelenken gepackt habe. Manchmal hasse ich mich wirklich.
Er wartet immer noch auf eine Antwort. Dann streckt er die Hand nach meinem Gesicht
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