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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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verschwitzt, nehme mir irgendwas von dem Stapel und lege es wieder hin.
    Die Fotos sind in ordentlichen kleinen Mappen aufbewahrt. Ich ziehe sie heraus und werfe sie durcheinander. Das eine oder andere sehe ich mir kurz an. Da ist meine Mum und grinst übers ganze Gesicht und hält irgendeineTrophäe, die sie gewonnen hat, in die Kamera. Sie hat Sportsachen an, also hat sie wahrscheinlich einen Wettlauf gewonnen. Sie sieht ziemlich heiß aus, denke ich, obwohl man seine eigene Mum eigentlich nicht in solchen Kategorien beurteilt. Lange, braune Beine. Frauen sollten vor vierzig einfach keine Kinder kriegen. Ich lasse das Foto ziemlich schnell wieder fallen.
    Dann betrachte ich eins von meinem Dad. Ich muss lachen, weil er so total anders aussieht. Er hat die Schuluniform der St. Saviours an; damals musste wohl auch die Oberstufe dieses Zeug anziehen. Und er hat den üblichen Armeehaarschnitt der St. Saviours.
    Außerdem hat er ein Baby auf dem Arm, und als ich das sehe, höre ich sofort auf zu lachen.
    Das Baby ist fast ganz in eine Decke eingewickelt, man kann nur seine Nase sehen. Aber Dad strahlt übers ganze Gesicht. Er sieht glücklich aus. Er sieht stolz aus. Er sieht überhaupt nicht so aus, wie man sich einen Vater vorstellt, der noch zur Schule geht, gar nicht wie ein Junge, der abgenervt und verschreckt ist und der Angst hat, dass das Baby ihn jeden Moment anspuckt oder ankackt.
    Es gibt noch mehr Fotos. Meine Mum, die mich im Arm hält. Ich habe eine Jeans-Latzhose an, was immer ziemlich beknackt aussieht, und ich bin so kahl und hässlich wie dieser Komiker bei Little Britain. Mum sieht anders aus, irgendwie draller, als wollte sie gleich aus ihrem viel zu engen T-Shirt rausplatzen. So gefällt sie mir überhaupt nicht.
    Das nächste Foto ist nicht so alt. Es ist ein großer, glänzender Abzug. Arron und ich sind darauf. Wie das denn? Wir haben St.-Saviours-Jacken an. Es sieht so aus, als kämen wir gerade aus dem Schultor heraus, auf dem Weg zur U-Bahn. Arron geht vorne, ich hinterher. Wir lachen, wir sehen aus wie richtige Freunde. Wer hat das Foto denn gemacht? Wie hat es mein Dad in die Finger bekommen?
    Ich ziehe einen Brief aus einem der vollgestopften Umschläge. Dickes, cremefarbenes Schreibpapier. Eine zackige Handschrift. Schwarze Tinte, kein Kugelschreiber. Die Schrift verschwimmt vor mir und wird dann wieder klar. Ich lese ein paar Sätze: Er ist so still und verschlossen gewesen, so teilnahmslos. Es ist viel gesünder für ihn, wenn er sich aufregt, wenn er deine Stimme hört … Es geht ihm bestimmt bald wieder richtig gut. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich merke, dass sich irgendwo ganz hinten in meinem Kopf Unruhe breitmacht, Angst … ich muss einen Moment in Ruhe nachdenken.
    Mein Dad ist überall hingegangen und hat nach mir gefragt. Er war in dem Boxclub, in den auch Jukes’ Leute gehen. Was hat er ihnen gesagt? Was hat er dort gefragt?
    Ich versuche mich daran zu erinnern, ob er Nathan angerufen hat oder Nathan ihn. Ich überlege, warum das eine Rolle spielen könnte. Dann höre ich es klicken und die Tür geht auf.
    »Du hast mich eingesperrt!«, schreie ich ihn an. »Du hast mich eingesperrt! Das darfst du nicht!«
    »Ich bin nicht weit gewesen«, erwidert er.
    Er hat ein Tablett mit zwei Tassen Tee und einem Teller mit zwei Stücken Kuchen drauf dabei. Am liebsten würde ich es ihm aus der Hand schlagen, ihm den Kuchen ins Gesicht drücken und über die Hochglanzfotos schmieren.
    Aber ich lasse es bleiben, weil mir das Wasser im Mund zusammenläuft.
    »Deine Tasse ist die mit dem Löffel drin. Zwei Stück Zucker, stimmt doch?«, fragt er, als ob überhaupt nichts gewesen wäre. Ich schnappe mir ein Stück Kuchen – Schokolade, mmm – und stopfe es mir in den Mund. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagt er. »Seit deinem ersten Geburtstag habe ich das nicht mehr zu dir sagen können.«
    Habe ich heute Geburtstag? Bin ich fünfzehn? »Du darfst mich nicht einsperren. Ich bin nicht dein Gefangener«, murmele ich mit dem Mund voller Kuchen und nehme mir das zweite Stück. Er nickt. »Nur zu. Lass dir’s schmecken.«
    Er muss weggegangen sein, um mir einen Geburtstagskuchen zu kaufen. Ziemlich nett von ihm. Schade, dass Claire nicht hier ist, dann könnten wir gemeinsam unseren Geburtstag feiern. Ich hätte sie so gerne geküsst … wäre so gerne bei ihr geblieben. Vielleicht sehe ich sie nie wieder.
    Mein Dad setzt sich neben mir auf den Boden.
    »Ich musste

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