Die letzte Eskorte: Roman
Unsicherheit. Was, wenn Henrietta es sich noch einmal anders überlegt hatte?
Schnell holte er all ihre Briefe hervor und verbrachte die nächste Stunde damit, sie alle nacheinander durchzulesen, vom ersten bis zum letzten. Und als er endlich fertig war, kam er zu dem Schluss, dass Henriettas Herz beständiger war als der Sonnenaufgang. Jeden Tag erstanden ihre Gefühle wieder so hell wie am Tag zuvor. Und Hayden hoffte, dass seine Gefühle immer genauso hell leuchten würden.
Ihm war es, als wäre er nie fort gewesen: Plymouth lag im englischen Regen, eine schwache Grunddünung verunsicherte den Hafen. Der blaue mediterrane Himmel, die warmen und windstillen Nachmittage schienen unendlich weit weg zu sein – Erinnerungen an einen lange zurückliegenden Sommer, als Hayden noch jung gewesen war und in der Gunst des Admirals gestanden hatte.
Er war ungeduldig und wollte möglichst schnell an Land, jetzt, da seine Zweifel aus dem Weg geräumt worden waren. Zu diesem Zweck hatte er bereits in den frühen Morgenstunden einen Brief zu Lady Hertle geschickt. Insgeheim hoffte er, dass Henrietta bei ihrer Tante zu Besuch war und dass er sie noch am selben Tag würde sehen können – um ihr dann die Frage zu stellen, auf die er unbedingt eine Antwort haben wollte. Dass er überhaupt so lange gezögert hatte, kam ihm nun vollkommen töricht vor, und so blieb zu hoffen, dass Henrietta sich von diesem Zaudern nicht verletzt fühlte.
Allerhand Papiere breiteten sich fächerförmig vor Hayden aus, viel zu viele für dieses kleine Schreibpult. Sowohl Mr Barthes Logbuch als auch Haydens Tagebuch lagen offen auf dem Tisch, während Hayden seinen Bericht an die Admiralität und einen Brief an den Hafenadmiral zu Ende schrieb.
Ausgaben waren zu rechtfertigen, Vorräte mussten überschlagen werden, Bestellungen für Pulver und neue Vorräte beim Waffenamt und Proviantamt aufgegeben werden. Die Verwundeten mussten an Land weiter im Lazarett versorgt werden, und Hayden durfte auch das Navy Board nicht verprellen. Das Hurt and Sick Board hatte einen genauen Bericht über die Influenza erbeten, den zum Glück Griffiths schrieb. Hayden brauchte nur ein paar Ergänzungen vorzunehmen und seine Unterschrift darunter zu setzen.
Dann musste natürlich noch der Erste Sekretär der Navy, Mr Stephens, eine Nachricht erhalten. Hayden wusste immer noch nicht, warum man ihn so rasch nach England zurückbeordert hatte, und hoffte nun, dass Philip Stephens sich für ihn einsetzte. Mr Barthes Einschätzung der vergangenen Nacht erschien Hayden bei Tage eher unwahrscheinlich, aber er musste mit allem rechnen.
All seine Offiziere freuten sich darauf, endlich die Liebsten oder Freunde wiedersehen zu können, und daher wollte keiner an Bord bleiben, um die Vorbereitungen zu überwachen, die unumgänglich waren, wenn das Schiff erneut in See stechen sollte.
Hayden vermutete, dass die Themis einen neuen Einsatzbefehl erhalten würde. Lord Hood hatte ihm zwar das Kommando über das Schiff überlassen, doch der Admiral war sich vermutlich nicht so sicher, ob seine Freunde in der Admiralität, wer auch immer diese Herren sein mochten, Hayden den Posten auch zuerkannten.
So kam es, dass Hayden später am Nachmittag unter einem Vorwand an Land ging, angeblich um einige Briefe persönlich zu überbringen. Von Lady Hertle hatte er noch keine Antwort erhalten, was ihn vermuten ließ, dass die Dame nicht zu Hause war.
Nachdem er eine Besorgung erledigt hatte, beschloss er, den kurzen Fußweg zu Lady Hertles Villa in Kauf zu nehmen, in der Hoffnung, dass die Dame des Hauses mit ihrer Nichte Henrietta in der Stadt war und bald zurückkehren würde. Gewiss wären die Damen hocherfreut, dass er schon wieder englischen Boden unter den Füßen hatte, obwohl von einem längeren Einsatz die Rede gewesen war.
Auf sein Klopfen hin kam der Diener von Lady Hertle an die Tür – jener alte Seemann, den Hayden von seinem ersten Besuch her kannte. Doch der Mann, der zuvor immer erfreut gewesen war ihn zu sehen, legte an diesem Tag eine steinerne Würde an den Tag.
»Ich habe heute früh Lady Hertle eine Nachricht zukommen lassen, die nicht beantwortet wurde«, erklärte Hayden. »Daher vermute ich, dass der Brief abhandenkam oder die Dame nicht zu Hause ist. Nun erlaube ich mir, selbst vorstellig zu werden, in der Hoffnung, meine Karte hier lassen zu dürfen.«
»Ich werde Lady Hertle von Ihrer Bitte in Kenntnis setzen, Sir. Wenn Sie einen Moment warten möchten.«
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