Die letzte Flucht
der Gerichtssaal, Henry. Dort werden wir uns wiedersehen.
»Der Arzt ist also das Nadelöhr«, sagte Henry. »Habe ich das richtig verstanden?«
»Der Arzt ist das Nadelöhr. Er schreibt das Rezept aus. Ich sage immer zu meinen Leuten: Die Verordner, das ist unsere eigentliche Vertriebsorganisation. Ihr müsst diese Vertriebsorganisation intelligent managen.«
Henry lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er faltete die Arme hinter dem Nacken zusammen und sah Assmuss lange an.
»Ich höre«, sagte er nach einer Weile.
»Nun, wir haben unsere Pharmareferenten. Über diese bauen wir eine persönliche Beziehung auf in jede einzelne Arztpraxis. Wir …«
»Beeinflussen Sie Ärzte, sodass sie Medikamente von Peterson & Peterson verordnen?«
»Ja, sicher. Unser ganzer Marketingapparat richtet sich an den Arzt. Wir wollen ihn überzeugen, unsere Präparate zu verschreiben. Das ist doch vollkommen legal.«
»Sicher. Sagt Ihnen das Kürzel AWB etwas?«
» AWB ? Sicher. Es ist die Abkürzung für Anwendungsbeobachtung.«
»Erklären Sie mir, was das ist.«
»Anwendungsbeobachtung? Sie sind kein Arzt, Henry, nicht wahr? Nun, ein Arzt kreuzt auf einem unserer Formulare nach jeder Verschreibung eines Medikaments an, ob und wie das Präparat wirkt.«
»Also eine wissenschaftliche Studie?«
Assmuss schwieg.
»Überlegen Sie sich Ihre Antwort gut. Sind die Anwendungsbeobachtungen, die Ärzte für Ihr Unternehmen durchführen, wissenschaftlich?«
Assmuss schwieg.
Nach einer Weile sagte er: »Nein. Das sind sie nicht. Sie sind eines unserer Marketinginstrumente. Ein einfacher Fragebogen. Der Arzt kreuzt bei der Verordnung eines unserer Präparate an: Patient, wirkt oder wirkt nicht, manchmal ein wenig aufwendiger, aber nicht viel. Wissenschaftlich ist das nicht von Belang. Kein Forscher schaut sich die Ergebnisse der AWB s an. Die Vertriebsleute schon.«
»Warum füllen die Ärzte dann solche Bögen aus? Wegen Ihrer Vertriebsleute?«
Assmuss schluckte. Er fühlte sich unwohl.
»Nun ja«, sagte er. »Der Bogen ist der Nachweis des Arztes dafür, dass er unser Medikament verordnet hat. Und, nun ja, wir bezahlen entsprechend.«
»Sie bezahlen entsprechend?«
»Ja. Aber nicht nur Peterson & Peterson . Verstehen Sie? Das ist nicht exklusiv unsere Spezialität. Alle unsere Wettbewerber machen das.«
»Ich will es schon etwas genauer wissen.«
Assmuss atmete einmal tief ein.
»Wir gewähren den Verordnern eine Aufwandsentschädigung für ihre Teilnahme an der AWB . Für jedes Präparat von Peterson & Peterson bekommt der Arzt eine Vergütung.«
»Ist das nicht verboten?«
»Nun, in jeder Branche gibt es Prämien, Tippprämien, wenn Sie jemandem einen lukrativen Hinweis geben. Kickback. Sievermitteln jemand ein Geschäft, und der gibt aus Dankbarkeit einen kleinen Betrag zurück. Kickback eben, so sehen wir das.«
»Und nehmen Ärzte tatsächlich an solchen Projekten teil?«
Assmuss lachte wieder das trockene, hässliche Lachen. Jetzt fühlte er sich sicher, er kannte sich aus.
»Beinahe die Hälfte der Ärzteschaft. Wir suchen sie natürlich entsprechend aus.«
»Nach welchen Kriterien suchen Sie die Ärzte für die Anwendungsbeobachtungen aus?«
»Ich predige das immer wieder unserem Außendienst: Wenn ein Arzt ohnehin ein guter Verordner ist …«
»Ein guter Verordner?«
»Ja, ein guter Verordner ist ein Arzt, der häufiger als seine Kollegen unsere Mittel verschreibt. Also, einem guten Verordner eine AWB zuzuschanzen, ist rausgeschmissenes Geld. Der Außendienst soll gefälligst nur Nicht- oder Schlechtverordner für Anwendungsbeobachtungen gewinnen. Nur über die Gewinnung von Nichtverordnern können wir den Umsatz steigern. Die guten Verordner müssen wir in ihrer Haltung bestärken. Aber dazu sind AWB s nicht förderlich.«
»Und das funktioniert?«
»Ja. Wir wissen, dass Verordner, mit denen wir eine AWB durchführen, unsere Präparate 26 Prozent häufiger verordnet haben als andere Ärzte ohne unsere AWB s. AWB s, richtig eingesetzt, sind ein brillantes Marketinginstrument. Sonst würden wir’s ja auch nicht machen.«
»Aber muss der Arzt nicht unabhängig sein? Muss er nicht das beste Medikament für den Patienten verschreiben und nicht das Medikament, für dessen Verschreibung er eine Prämie bekommt? Das ist doch sicher nicht legal.«
»Nun, deshalb müssen wir den Kickback ja ein wenig verschleiern. Der Verordner soll nicht das Gefühl haben, bestochen zu werden.«
»Der Patient muss also
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