Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
einer Krise in der Agrarversicherungsbranche.«
»Krise in der Agrarversicherungsbranche hin oder her«, blaffte Amanda. »Geht euch waschen, bevor ihr was esst.«
Ein schrilles Piepsen ertönte. Lily holte das Handy heraus, das sie von der Botschaft bekommen hatte. Ein weiteres flaches, schnittiges Produkt, wie ein Kieselstein, ein richtiger Handschmeichler. Sie hob es ans Ohr. Es war Helen Gray, und sie klang zornig und beunruhigt.
6
Lily hatte keine Ahnung, wie sie mit diesem neumodischen Handy Kontakt zu Gary Boyle aufnehmen sollte. Sie hatte ja nicht einmal seine Nummer. In einen schweren Regenmantel gehüllt, den sie sich von Amanda geborgt hatte, verließ sie das Haus, um ihn zu suchen.
Sie wich dem Wasser aus, das von den Reifen der Autos aufspritzte, und ging zur Fulham Road, an die sie sich aus ihrer Kindheit noch gut erinnerte. Das Straßenbild hatte sich jedoch stark gewandelt; eine Veränderung war der anderen gefolgt, viele davon erst in jüngster Zeit. Die imposanten alten Villen waren größtenteils in Eigentumswohnungen umgewandelt oder ganz abgerissen worden und Geschäften, Restaurants, Tankstellen und Maklerbüros gewichen. Überall sah man die Narben der Überschwemmung - Flutmarken im unteren Bereich der Mauern, glitschiger Schlamm in Vorgärten -, und in der Luft hing ein anhaltender Abwassergestank. Viele Häuser waren mit Brettern vernagelt, weil sie wegen der Flutschäden auf der Abrissliste standen.
Lily ging die Fulham High Street entlang, Richtung Putney Bridge Road. Eine Konzertkasse warb mit verbilligten Karten für sämtliche Westend-Shows. Amanda hatte ihr erzählt, Reisen sei heutzutage so problematisch, dass es leicht sei, Karten für die Oper, die Musicals, ja sogar die großen
Fußballspiele zu bekommen. Auch in den Restaurants gebe es immer freie Tische, doch das Angebot sei eingeschränkt, weil der internationale Lebensmittelgroßhandel schwer in Mitleidenschaft gezogen worden sei.
Bevor sie den Fluss erreichte, ging sie ein paar Stufen zum Bishop’s Park hinunter, einem dicht belaubten Garten, über dem der schlanke Turm des Fulham Palace in den Himmel stieß. Der nicht allzu starke Regen klatschte auf das dicke Sommerlaub der alten Bäume. Die Rasenflächen standen unter Wasser, und Enten und Teichhühner schwammen zufrieden in Tümpeln, aus denen überall lange Gräser und ihrem Schicksal überlassene Bäume ragten.
Sie fand Gary auf einer Bank am Uferweg, vor einem grünen Geländer, an dem ein orangefarbener Rettungsring hing. Lily setzte sich zu ihm. Gary summte leise vor sich hin und klopfte mit dem Fuß einen Takt. Offenbar hatte er die Angels entdeckt. In den Kellern hatte er immer davon gesprochen, wie sehr ihm die Musik fehlte; nun holte er einiges nach.
Die Themse führte Hochwasser und floss sehr schnell, wie Lily schien, ein zorniges graues Tier, das sich unter den blassen Sandsteinbogen der Putney Bridge durchzwängte. Am gegenüberliegenden Ufer glitzerten Bootshäuser im Regen; heute war niemand zum Rudern draußen.
»Ich habe sieben Jogger gezählt, seit ich hier sitze«, sagte Gary. »Und vier Leute mit Hunden.«
»Irgendwo in diesem Park steht ein Denkmal für die hiesigen Angehörigen der Internationalen Brigaden, die im spanischen Bürgerkrieg für die Republik gekämpft haben.«
»Die Welt ist ein Dorf … Deine Schwester ist sehr gastfreundlich.
Sie hat mir das Gefühl gegeben, willkommen zu sein.«
»Na ja, das ist gewissermaßen ihr Job. Sie ist Eventkoordinatorin. Sie hat sich Urlaub genommen, als sie erfahren hat, dass ich freigekommen bin. Sie sagt, sie holt die Kinder morgen von der Schule ab und fährt mit ihnen zum Dome in Greenwich, so eine Art Kultur-Bonbon zum Schulschluss vor den Ferien …«
»Sieht aus, als würde der Fluss Hochwasser führen.«
»Finde ich auch.«
»Machen sich so weit landeinwärts immer noch die Gezeiten bemerkbar?«
»Ich glaube schon.«
»Schau dir das an.« Er brachte einen Handheld zum Vorschein, ein Geschenk von AxysCorp, mit dem man sich Nachrichten ansehen und Clips aufzeichnen konnte. Er beschirmte ihn mit der Hand vor dem Regen.
Es war nicht nur London. Ein erheblicher Teil des Landes wurde offenbar regelmäßig von Überschwemmungen heimgesucht. Englands große Flüsse waren allesamt angeschwollen, über die Ufer getreten, und in der Nähe des Trent, des Clyde und des Severn gab es bis nach Shrewsbury hinauf Flüchtlingslager - Wohnwagen- und Zeltplätze - auf höher gelegenem Gelände. In
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