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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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»Es ist seit jeher meine Leibspeise – und eine, die du souverän beherrschst.«
    Mrs Noyes machte automatisch einen Knicks, als wäre sie ein Kind, das gerade mit einem Kompliment bedacht wurde. Aber sie sagte nichts. Die tropfnassen Haare hingen ihr in die Augen, sie streifte sie beiseite.
    Noah drehte sich zur Tür um und rief nach Hannah, und während sie auf Hannah warteten, fragte Mrs Noyes, ob sie sich hinsetzen dürfe.
    »Ja«, sagte Noah und deutete auf den Stuhl, auf dem sie bei ihrem vorigen »Besuch« gesessen hatte. Als Hannah hereinkam und sich setzte – den Bleistift über dem selbst gemachten Heft auf der anderen Tischseite schreibbereit –, ließ Mrs Noyes ihre Haare ganz herunter; sie legte sämtliche Haarnadeln auf das polierte Holz, und während sie das Rezept diktierte, flocht sie ihre Haare zu Zöpfen und befestigte sie – ganz stramm – oben auf dem Kopf.
    »Du kannst den Teig entweder zuerst blind oder mit der Füllung backen«, sagte sie. »Ich ziehe Letzteres vor, da der Teig dann nicht so knusprig ist, dass er auf dem Teller zu Krümeln zerfällt.«
    Der Bleistift schrieb – dann hielt er inne.
    »Soll ich dir auch sagen, wie man den Teig macht?« Ein neues Blatt wurde aufgeschlagen – ganz eifrig, so kam es Mrs Noyes vor, und der Bleistift schwebte erwartungsvoll über dem Heft.
    Noah ließ sich im Schein der Laterne nieder und beobachtete seine Frau, während sie sprach. Ihr Tonfall war jetzt so sanft – nachdenklich – und das Lichtspiel auf ihrem Gesicht… Die Zeit drehte sich vierhundert Jahre zurück, so kam es ihm vor, während er lauschte… und die Gerüche der Küche, wie sie früher einmal waren, wurden wieder in ihm wach. Er konnte sogar sehen, wie ihre Hände den Teig bearbeiteten… vierhundert, fünfhundert Jahre… Erstaunlich. Und traurig. Man hatte in Häusern gewohnt, damals, und die Bäume spendeten Schatten und die Welt war für einen da. Jetzt…
    »… es ist unbedingt wichtig, die gleiche Menge an Fett und Mehl zu nehmen…«
    Wir sind alt. Aber damals…
    »… nimm immer ungesalzene Butter…«
    … waren wir Kinder. Fast noch Kinder. Kinder in einem Garten – neben einem Obstgarten – und wir aßen Quiche. Und ich liebte sie, damals. Wirklich, glaub mir. Ich…
    »… eine Vierteltasse kaltes Wasser und eine Prise Salz. Das Salz nach Geschmack…« Mrs Noyes schaute zu Noah. »Er mag eine größere Prise«, sagte sie. »So…«, und sie zeigte es mit Daumen und Zeigefinger – eben so.
    Der Bleistift erhob sich vom Papier. Er wusste nicht, wie man das hinschreibt.
    »Sieh her – und merk es dir!«, sagte Mrs Noyes. »So…«
    Einen Augenblick später kehrte der Bleistift zum Papier zurück.
    Noah stand auf und ging weg, und als er zurückkam, hatte er sich die Nase geputzt und faltete eben sein Taschentuch, um es in die Tasche zu stecken. Er nahm es wieder heraus, faltete es wieder, betupfte seinen Lippenbart – faltete das Taschentuch immer wieder, bis Mrs Noyes endlich einen solchen Seufzer losließ und ihm einen solchen Blick zuwarf, dass er es plötzlich hinter seinem Rücken verschwinden ließ, wo es aus seiner Hand wie ein Schwanz herunterhing.
    »Jetzt – die Füllung«, sagte Mrs Noyes.
    Fünfhundert Jahre.
    »… ein Hartkäse, Vollfettstufe, ist am besten. Und er muss fein… fein gerieben werden. Es geht nicht, dass man ihn mit dem Messer aufschneidet und dann hofft, dass es gelingt…«
    Es machte Mrs Noyes ziemlich viel Spaß. Seit dem Tod ihrer Töchter hatte sie keiner Menschenseele mehr das Kochen beigebracht.
    »… ein schaumig geschlagenes Ei… ein Viertelliter Kondensmilch und eine halbe Tasse Vollmilch… den Käse und eine Messerspitze Paprika.«
    »Ahhh!«, machte Noah.
    »Ja«, sagte Mrs Noyes. »›Ahhh!‹ In der Tat. Du hast höchstwahrscheinlich den Paprika und noch eine unentbehrliche Zutat ausgelassen…«
    Sie schaute Noah an – sie konnte sich nicht zurückhalten. »Weißt du noch«, sagte sie, »was das ist?«
    Noah schüttelte den Kopf.
    »Dann werde ich es dir sagen«, sagte Mrs Noyes. »Bist du sicher, dass du dich nicht daran erinnerst?«
    »Nein, ich erinnere mich nicht«, sagte Noah – und neigte sich nach vorn. »Bitte…«
    Mrs Noyes wandte sich dem Bleistift zu und flüsterte: »Muskat.«
    »Ahhhhhh…«, machte Noah.
    »Ja«, sagte Mrs Noyes, »und zwar nur so viel.« Sie gab ein kehliges Geräusch von sich – einen krächzenden Husten – und lächelte. »Verstehst du? So viel – und kein bisschen

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