Die letzte Flut
Schnee.
Ham war völlig niedergeschlagen.
»Wir haben nicht einmal im Traum daran gedacht, dass er vielleicht nicht drin sein könnte«, sagte er. »Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet!«
»Das nächste Mal werden wir daran denken«, sagte Luci.
»Das nächste Mal?« Ham hob seine gefesselten Handgelenke in einer Geste der Verzweiflung. »Welches nächste Mal?«
»Das nächste Mal und das nächste Mal und das nächste«, sagte Luci. »Sooft wir eben brauchen, bis wir gewinnen. Wenn du klug bist, betrachtest du das, was wir heute Nacht gemacht haben, nicht als einen Misserfolg, sondern als eine Probe. Eine Erfahrung, die uns ab jetzt nur nutzen kann…«
»Ach ja«, sagte Ham. »Nutzen. Und wie, schlägst du vor, soll das gehen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich denke darüber nach. Und ich schlage vor, dass du das auch tust, es bringt auch für dich. Schätzchen, viel mehr, als sich wegen unseres Scheiterns zu grämen.«
In diesem Augenblick kam Japeth wieder aus dem Kastell mit Sem und Doktor Noyes im Schlepptau.
»Da sind sie«, sagte er. »Da drüben.«
Noah – er sah sehr alt aus, gerade so, als ob er in einem Leichentuch aus seinem Grab gestiegen wäre statt in seiner Decke aus der Wärme seines Bettes – ging quer über das Deck und versuchte, die Gefangenen durch das Schneegestöber zu erkennen.
Es war das erste Mal seit mehr als einem Monat, dass er seine Frau wieder sah, und er erkannte sie kaum, so dünn war sie geworden und trotz des Schnees so dreckig. Wen er gar nicht erkannte, war Luci mit ihrem jetzt kupferfarbenen Haar und dem knochigen Gesicht, so wenig dem Gesicht ähnlich, an das er sich erinnerte: weiß und rund und schön. Sein Sohn, der nur aus Rupfen und Matsch zu bestehen schien, mit seinen langen, zottigen Haaren und den gefesselten Händen war ihm völlig unbekannt.
»Wer sind diese Leute?«, fragte er Japeth. »Wieder ein Enterkommando?«
»Nein, Vater. Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt: Es sind Ham und Luci und Mutter.«
Noah blinzelte. Und schnupperte.
»Brennen sie?«, fragte er.
»Nein, Vater. Das sind die Dämonen.«
Mit einer Mischung aus Abneigung und Angst betrachtete Noah die Rupfensäcke und die glühenden Augen.
»Sind sie gefährlich?«, fragte er.
Sem sagte: »Nein«, und Japeth sagte: »Ja.«
»Dann schau, dass du sie loswirst!«, sagte Noah.
Japeth ging hin, hob die Säcke auf und warf sie über Bord.
Es geschah so schnell, dass keiner der Verschwörer auch nur Zeit hatte zu protestieren. Und die Dämonen – denen überhaupt nicht bewusst war, was mit ihnen geschah – dachten, man wolle sie nur hochheben und herumschwingen, und so schrien sie vor Freude, als sie über die Reling und in den zischenden Schneesturm hinauswirbelten.
Erst lange, nachdem sie unter der Wasseroberfläche verschwunden waren, hatte sich Mrs Noyes von dem Schock erholt. Sie sah zu Japeth hin, als ginge er noch immer auf die Dämonen zu, als wäre die Tat noch nicht vollzogen – und sie sagte: »Bitte nicht, sie sind doch unsere Freunde!…«
Luci senkte den Kopf, scheinbar aus Trauer, aber in Wirklichkeit vor Wut. Ganz langsam fingen die Seile um ihre Handgelenke zu schwelen an, doch keiner außer Ham schien es zu merken.
Japeth hatte sich von der Reling entfernt und versuchte, die Ketten am Halsband seiner Wölfe zu entwirren. Diese, die Augen unverwandt auf Luci gerichtet, wurden allmählich unruhig.
»Was ist los mit euch?«, fragte er. »Gebt Ruhe!« Japeth ärgerte sich immer noch über sie, weil sie sich geweigert hatten, seinen Befehl zum Angriff auszuführen.
Doch die Wölfe schienen ihn nicht zu hören. Sie witterten und wurden noch nervöser. Besonders das Weibchen zerrte an der Kette, was es für Japeth so gut wie unmöglich machte, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Männchen ließ den Schwanz hängen und versuchte sich hinter Japeth zu verstecken – während das Weibchen weiterhin in die entgegengesetzte Richtung zog.
Ham beobachtete mit wachsendem Interesse Lucis Handgelenke – sah, wie die Seile immer mehr Rauch abgaben und, während die Hitze zunahm, allmählich rot wurden – dann orange – dann gelb. Alle Muskeln in Lucis Armen spannten sich an – sie ballte die Fäuste und öffnete sie wieder; den Kopf hielt sie noch immer gesenkt und auf ihren Schultern und auf ihrem Rücken häufte sich der Schnee immer höher.
Mrs Noyes verschwand unter einer Schneewehe, weil sie sich nicht bewegen konnte – oder wollte – und Ham wurde
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