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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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sich zurück, um den restlichen Worten seines Freundes zu lauschen.
    »Wir sagen euch«, fuhr Jahwe fort, und Sein Blick wanderte von einem Zuhörer zum nächsten, »das Einzige, was man auf dem Antlitz dieser Erde erblickt – die ja ganz den Stempel des Menschen trägt – ist der Stolz!« Jahwe war jetzt so sehr in Seine Rede vertieft, dass sie Ihm förmlich aus dem Mund quoll und Er notgedrungen eine Serviette nehmen musste, um sie aufzufangen und Seinen Bart und Sein Kinn abzuwischen. »Stolz und Lüsternheit; Neid und Zorn; Begierde; Völlerei und Faulheit sind das Einzige, was man überall zu sehen bekommt! Der ganze tödliche Kanon von Laster, Verderbtheit und Entsetzen ist das Einzige, was man erblickt. Wir werden allerorten von einer Welle des Bösen, des Lasters und der Schande heimgesucht, die jeder Beschreibung spottet!«
    Alle, die sich in der Zwischenzeit ein bisschen entspannt zurückgelehnt hatten, beugten sich jetzt ganz nach vorne, verdrehten ihre Finger und ballten in der Anspannung des Augenblicks die Fäuste. Alle Münder standen offen – jede Lippe war von den Säften der Entrüstung und des Staunens befeuchtet.
    »Männer – Frauen – Kinder; alle sind der Korruption unterworfen. Niemand ist verschont geblieben – und niemand hat die anderen verschont. Die Abgründe des Grauens haben sich vertieft und unsere Straßen in den Städten erfasst. Man muss den Rock raffen, will Man nicht in Unrat versinken. Die Hände der Sünder strecken sich aus, um Einen zu berühren und in den Dreck zu ziehen. Ihre Stimmen rufen Einem von allen Seiten zu. Niemals in Unseren kühnsten Vorstellungen hätten Wir Uns solch ungeheuerliche Perversionen ausdenken können, wie sie Uns an jeder Straßenecke geboten wurden…«
    Unter der scheinbaren Ruhe seines Gewandes wurde Jahwes Leidenschaft offensichtlich so erregt, dass Abraham sich von seinem Platz auf Jahwes Schoß vertrieben fühlte, und der silberfarbene Kater auf einmal hinuntersprang und sich auf den Fußboden legte; sein Schwanz zuckte vor Erregung, während seine Augen den Pavillon auf der Suche nach einem Ausgang durchforschten.
    »Bedeutet das denn, das große Experiment nähert sich seinem Ende?«, fragte Jahwe. »Bedeutet es, dass Unser Plan abgelehnt worden ist?«
    Die Frage wurde mit vielen »Nein! Nein!«- und »Niemals! «-Rufen beantwortet.
    Doch Jahwe sagte: »Eure Beteuerungen kommen zu spät, meine Freunde. Ihr – und nur ihr – habt Unsere Worte mit so etwas wie Sympathie angehört. Anderswo – und überall sonst! – ging Unsere Stimme in Hohn unter und Wir wurden mit unverschämten und brutalen Gesten, wie Ihr sie Euch gar nicht vorstellen könnt, abgewiesen. Rufe wie ›Raus hier!‹, ›Hau ab!‹ und ›Lass uns in Frieden!‹, waren an der Tagesordnung.«
    Jahwe weinte.
    »So sind Wir zu euch gekommen. So sind Wir in Eurer Mitte angelangt. So geben Wir uns Eurer…«
    … Gnade …
    Das Wort wirbelte geradezu durch den Pavillon; diejenigen, die sich einbildeten, es gehört zu haben, gerieten bei der bloßen Vorstellung dessen, was es bedeutet, ins Taumeln.
    Sie müssten sich nämlich Seiner Gnade hingeben.
    »Halt!«, rief Noah. »Sagt das nicht, Herr! Wir wollen es nicht hören. Sagt nur, was Ihr wollt, dass wir tun sollen! Aber sprecht nicht von unserer Gnade! Offenbart uns vielmehr die Eure!«
    Jahwe lächelte.
    Er – und nur Er – war sich in diesem Augenblick bewusst, dass das Wort gar nicht ausgesprochen worden war. Er – und nur Er – wusste, was Er wirklich gerade hatte sagen wollen, nämlich: »So geben Wir Uns ganz eurer Gastfreundschaft hin.« Was Er wollte – das Einzige, was Er wollte –, war ein Zufluchtsort, an dem Er sich so lange aufhalten konnte, bis Er sich erholt hatte. Jetzt war ihm, so vermutete Er, mehr als nur eine Zuflucht geboten worden.
    Abraham schlüpfte unter den Windschutz des Pavillons und sog tief die Mitternachtsluft ein. Über ihm glitt der Mond rücklings durch ein Meer von Sternen – so vielen Sternen, dass vom Himmel kaum noch etwas zu sehen war. Rings um ihn schwebte der schwere Duft von irdischen Bäumen und Gras, von Kräutern und Wiesenblumen und Staub. Aus der einen Richtung der warme und fast verführerische Geruch der Scheunen, der von Mäusen, Küken und jungen Gänsen kündete. Aus der anderen der Duft von Engeln, Sterblichen, von Jahwe und den Resten des eben verzehrten Mahls. Irgendwo da draußen – nicht weit, aber auch nicht so nah, dass er es gleich orten konnte – war

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