Die letzte Generation: Roman (German Edition)
gegen andere europäische Mächte. Plötzlich waren sie die Besitzer eines Reiches geworden, ehe sie wussten, was sie damit anfangen sollten. Und sie waren nie wirklich glücklich damit, bis sie es wieder losgeworden waren.«
»Und möchten Sie«, fragte Dr. Sen, der dieser einmaligen Gelegenheit nicht widerstehen konnte, »Ihr Reich loswerden, wenn die Zeit kommt?«
»Ohne das geringste Zögern«, erwiderte der Inspektor.
Dr. Sen ging nicht weiter darauf ein. Die Unumwundenheit der Antwort war nicht gerade schmeichelhaft. Außerdem hatten sie nun die Akademie erreicht, wo die versammelten Pädagogen warteten, um ihre geistigen Fähigkeiten an einem wirklichen, lebenden Overlord zu schärfen.
»Wie unser hervorragender Kollege Ihnen erklärt haben dürfte«, sagte Professor Chance, der Dekan der Universität Neu-Athen, »ist es unsere Hauptaufgabe, den Geist unserer Bürger wachzuhalten und sie zu befähigen, alle ihre Möglichkeiten zu realisieren. Außerhalb dieser Insel« – seine Handbewegung deutete verächtlich die übrige Erdkugel an – »hat die Menschheit, wie ich befürchte, jede Initiative verloren. Sie hat Frieden, sie hat Überfluss, aber sie hat keinen Horizont!«
»Aber hier ist es natürlich anders ...«, unterbrach ihn der Overlord.
Professor Chance, der keinen Sinn für Humor hatte und sich dessen vage bewusst war, sah seinen Besucher argwöhnisch an. »Hier«, fuhr er fort, »leiden wir nicht unter dem alten Irrglauben, dass Muße etwas Böses ist. Aber wir sind nicht der Meinung, dass es genügt, passive Empfänger von Unterhaltung zu sein. Jeder auf dieser Insel hat einen Ehrgeiz, der sich sehr einfach in Worte fassen lässt. Er besteht darin, irgendetwas, so klein es auch sein mag, besser zu machen als irgendein anderer. Natürlich ist das ein Ideal, das wir nicht alle erreichen. Aber in dieser modernen Welt ist es wichtig, überhaupt ein Ideal zu haben. Es zu erreichen ist von erheblich geringerer Bedeutung.«
Der Inspektor schien nicht geneigt, etwas darauf zu erwidern. Er hatte die Schutzkleidung abgelegt, trug aber immer noch die dunkle Brille, selbst im gedämpften Licht des Versammlungsraums.
Der Dekan fragte sich, ob sie physiologisch notwendig oder bloße Tarnung war. Tatsächlich machte sie die ohnehin schwierige Aufgabe, die Gedanken des Overlords zu erraten, völlig unmöglich. Der Overlord schien jedoch keine Einwände gegen die recht provokanten Behauptungen zu haben, die man ihm vorgetragen hatte, oder gegen die darin enthaltene Kritik an der Politik seiner Artgenossen in Bezug auf die Erde.
Der Dekan machte sich bereit, den Angriff fortzusetzen, als Professor Sperling, der Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung, beschloss, sich als Dritter in den Kampf einzumischen. »Wie Sie zweifellos wissen, war eines der großen Probleme unserer Kultur die Spaltung zwischen Kunst und Wissenschaft. Ich würde sehr gerne Ihre Ansicht über diese Frage hören. Sind Sie der Meinung, dass alle Künstler abnorm sind? Dass ihre Arbeit – oder zumindest der Antrieb dazu – das Ergebnis eines tief verwurzelten seelischen Unfriedens ist?«
Professor Chance räusperte sich nachdrücklich, aber der Inspektor kam ihm zuvor.
»Man hat mir gesagt, dass alle Menschen in gewissem Maße Künstler sind, sodass jeder fähig ist, etwas zu schaffen, auch wenn es nur auf einem primitiven Niveau geschieht. Zum Beispiel ist mir gestern in Ihren Schulen aufgefallen, wie viel Wert auf den eigenen Ausdruck im Zeichnen, Malen und Modellieren gelegt wird. Der Antrieb dazu schien ganz allgemein zu sein, selbst unter denen, die offensichtlich dazu bestimmt sind, wissenschaftliche Spezialisten zu werden. Wenn also alle Künstler abnorm und alle Menschen Künstler sind, kommen wir zu einer interessanten Schlussfolgerung ...«
Alle warteten darauf, dass er den Satz vollendete, aber wenn es ihren Zwecken diente, konnten die Overlords sehr taktvoll sein.
Der Inspektor überstand das Symphoniekonzert glänzend, was erheblich mehr war, als man von vielen der menschlichen Zuhörer sagen konnte. Das einzige Zugeständnis an den Publikumsgeschmack war Strawinskys Psalmensymphonie gewesen; das übrige Programm war aggressiv modernistisch. Wie auch immer man auch sonst darüber denken mochte – die Darbietung war hervorragend, denn der Stolz der Kolonie, einige der besten Musiker der Welt zu besitzen, war nicht unbegründet. Es hatte unter den Komponisten allerhand Streit um die Ehre gegeben, in das
Weitere Kostenlose Bücher