Die letzte Jungfrau ...
Schatz”, sagte Sam sachlich. “Du könntest dich nicht einmal um eine Maus mitten in einem reifen Kornfeld richtig kümmern.”
“Was meinst du damit?”
“Warte einen Moment.” Er presste ihre Handfläche schmerzhaft fest mit Daumen und Zeigefinger zusammen. “Ich habe ihn. Besser so?”
“Ja, danke.” Annie saugte die kleine Wunde aus. “So, und jetzt erklär mir, womit ich diese letzte beleidigende Bemerkung verdient habe. Was ist mir entgangen, das dir offensichtlich sonnenklar ist?”
“Man hat uns einen Streich gespielt.”
“Einen Streich?”, wiederholte sie und sah Sam verständnislos an. “Du meinst, jemand hat uns hier absichtlich eingesperrt?”
“Überleg doch mal, Annie: Wir sind hier eingeschlossen, der Tank deines Außenbordmotors war plötzlich leer, jemand hat die Klinke meiner Schlafzimmertür sabotiert, nachdem ich sie repariert hatte, und im Gefängnis hat man uns in eine Zelle gesteckt, ohne uns vorher die Handschellen abzunehmen. Kommt dir das denn nicht seltsam vor?”
“Natürlich ist mir aufgefallen, dass wir beide in die merkwürdigsten Situationen geraten, aber ich dachte …”
“Was? Dass es Missgeschicke seien? Unglückliche Zufälle?”
“Ich bin nun mal nicht so misstrauisch veranlagt wie du.” Sie sah ihn neugierig an. “Wieso glaubst du, dass Absicht hinter all dem steckt?”
“Denk doch mal nach, Annie! Jemand muss die Tür verbarrikadiert haben. Das ist nicht von allein geschehen!”
Ihr war unbehaglich. “Na ja, ich dachte, vielleicht hat sie eins von den Schlössern, die von allein zuschnappen und die man ohne Schlüssel nicht öffnen kann.”
“Oh nein, da hat jemand nachgeholfen.”
“Ja, aber wer?”
“Ich habe, wie gesagt, einen bestimmten Verdacht.”
Sie setzte sich auf ein Fass und sah ihn fragend an. “Na los, sag mir schon, an wen du dabei denkst.”
“Vermutlich ist es derselbe, der mich vor sieben Jahren grün und blau geschlagen hat. In der Nacht, als die drei ‘Musketiere’ mich von der Insel vertrieben haben.”
“Was sagst du da?”
“Habe ich dir diese nebensächliche Einzelheit bisher verschwiegen?”, fragte er gespielt unschuldig.
“Oh ja, das hast du!” Annie war völlig schockiert. “Ist das auch wahr, Sam? Jemand hat dich damals zusammengeschlagen?”
“Wusstest du das nicht?”
“Nein!” Die Szene entstand plötzlich deutlich vor ihrem inneren Auge: Fäuste, die auf Sam einschlugen. Sam, der halb bewusstlos liegen gelassen wurde, zu schwach, um Hilfe zu rufen. Sam, allein und verletzt — und diejenigen verfluchend, die ihm das angetan hatten. Tränen brannten Annie in den Augen. Sie war verantwortlich für seine Schmerzen. Vor Entsetzen stockte ihr der Atem. “Sam!” Sie rang nach Luft. “Ich kann … nicht atmen.”
Sofort eilte er zu ihr, zog sie hoch und nahm sie in die Arme. “Ruhig, mein Schatz, ganz ruhig! Der Vorfall ist lange her. Er hat mir nicht wirklich geschadet, wie du vielleicht schon gemerkt hast.”
Seine tröstenden Worte halfen ihr nicht. Sie fing trotzdem herzzerreißend zu weinen und zu schluchzen an. Bestimmt bot sie einen jämmerlichen Anblick.
“Sie haben dich verletzt, Sam! Warum nur haben sie das getan?”
“Viele Männer schlagen nun mal zu, wenn sie zornig sind und sich zugleich hilflos fühlen.”
“Ich hatte ihnen aber doch gesagt, dass es meine Schuld sei und du nichts Falsches getan hättest.” Sie zog ein Taschentuch aus der Kleidertasche. “Ich sagte ihnen, ich hätte es mir anders überlegt, würde aber nicht den Mut finden, dir zu gestehen, dass ich dich nicht begleiten wolle.”
“Anscheinend haben sie deine Worte falsch gedeutet.”
“Was ist denn nun wirklich passiert?”, fragte Annie, sobald der Tränenstrom nachließ und sie wieder klarer denken konnte. Allmählich wurde sie zornig, und das verdrängte alle anderen Empfindungen. “Wer hat dich angegriffen?”
“Ich habe ihn nicht gesehen. Es war doch dunkel, und er hat mich von hinten erwischt, während ich versuchte, mich von den Stricken zu befreien.”
“Und er hat dich geschlagen?”
“Ja, richtig durchgewalkt. Da ich gefesselt war, konnte ich mich nicht mal revanchieren.”
“Oh Sam!” Schaudernd atmete sie tief durch. “Das hatte ich wirklich nicht gewollt und …”
“Es ist lange her”, sagte er tröstend. “Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du nur als Vorwand für die Attacke gedient hast. Die Wut, die ich bei meinem Angreifer spüren konnte, war gegen mich
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