Die letzte Jungfrau ...
Die Jungen werden die Fensterläden zunageln und dafür sorgen, dass das Haus wasserdicht ist.”
“Wo wirst du während des Sturms bleiben?”, erkundigte Annie sich besorgt. “Komm doch zu uns nach Soundings.”
Myrtle warf ihr einen neckenden Blick zu. “Das würde euch ja eine interessante Hochzeitsnacht bescheren.”
“Wie es aussieht, wird es ohnehin eine stürmische Nacht”, erwiderte Sam trocken. “Du bist uns wirklich herzlich willkommen, Myrtle.”
“Nicht nötig, mein Junge. Pansy und Bertie haben ebenfalls angeboten, mich einzuquartieren, und ich habe die Einladung angenommen.”
“Ihr Haus steht aber doch dicht am Meer”, wandte Annie aufgeregt ein. “Sie trifft es immer am schlimmsten.”
Ungeduldig stieß Myrtle mit dem Stock auf den Boden. “Lieber Himmel! Annie Beaumont, du weißt genau, dass das Haus jedem Sturm bisher getrotzt hat. Hör auf, dir unnötig Sorgen zu machen, und lass dich von Sam nach Hause bringen. Ihr habt schon genug zu tun, auch ohne euch um mich zu kümmern.”
Liebevoll umarmte Annie die alte Frau. “Ich hab dich lieb”, flüsterte sie. “Du bist all die Jahre wie eine Mutter zu mir gewesen. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen.”
“Ich hab dich auch lieb, Kindchen.” Myrtle klang gerührt. “Eine Tochter wie dich zu haben hätte mich glücklich und stolz gemacht.”
“Ich weiß.” Annie wischte sich Tränen von den Wangen und wandte sich ihrem Mann zu. “Bring mich jetzt bitte nach Hause, Sam.”
“Mit Vergnügen.” Er hob sie auf die Arme und trug sie aus der Kirche. Im Süden hatten sich schwarze Sturmwolken bedrohlich zusammengeballt, aber noch schien über Delacorte Island die Sonne am blauen Himmel.
“Entschuldigung, sind Sie Mr. Beaumont?”, fragte jemand.
Annie erkannte die Stimme und verspannte sich. Anscheinend wollte ihr das Schicksal nicht einmal wenige Tage Eheglück gönnen, bevor alles zu einem schmerzlichen Ende kam. “Das ist Dads Anwalt”, flüsterte sie Sam zu.
Er stellte sie auf die Füße und wandte sich dem Mann zu. “Guten Tag. Möchten Sie mir auch zur Hochzeit gratulieren?”
“Es tut mir leid, Sie zu stören. Ich bin von meinem ehemaligen Klienten Joseph Delacorte beauftragt worden, diesen Brief dem Verlobten seiner Tochter Anna Sarah auszuhändigen.” Er hielt Sam einen flachen weißen Umschlag hin.
“Ich bin nicht Annies Verlobter, sondern ihr Ehemann”, erwiderte Sam ruhig.
“Ja, Mr. Beaumont, dieser Tatsache bin ich mir durchaus bewusst. Trotzdem möchte ich Ihnen das hier geben.”
Sam zog eine Braue hoch. “Sind Sie über den Inhalt informiert?”
“Nein, der Umschlag wurde mir versiegelt überreicht.” Wieder hielt der Anwalt Sam das Kuvert hin. “Mr. Beaumont, ich habe Frau und Kinder, denen ich helfen muss, das Haus sturmfest zu machen. Sobald Sie den Brief genommen und den Empfang bestätigt haben, kann ich mich auf den Weg zu meiner Familie machen.”
“Ja, natürlich.” Endlich nahm Sam den Umschlag und schob ihn in die Hosentasche, dann unterschrieb er die Empfangsbestätigung.
Annie hatte schweigend zugesehen, während ihre Hoffnung auf Glück zunichtewurde.
“Willst du den Brief nicht lesen?”, fragte sie, sobald der Anwalt sie allein gelassen hatte.
“Nein.” Sam betrachtete kritisch die heranziehenden Sturmwolken. “Wir müssen zuerst das Haus sichern. Über Briefe und dunkle Geheimnisse zerbrechen wir uns später den Kopf.”
Annie war sofort weniger deprimiert. Anscheinend war ihr doch ein Aufschub gegönnt.
“Es tut mir leid, dass man dich bei der Trauung so geneckt hat”, sagte sie, als sie in Soundings ankamen.
Sam zuckte die Schultern. “Das hat mir nichts ausgemacht. Du wirst wahrscheinlich bald feststellen, dass ich jetzt gesellschaftlich akzeptabel geworden bin.”
“Wodurch?”
“Durch die Ehe mit dir natürlich.” Sie wurde blass, was Sam nicht entging. Er legte ihr die Hände auf die Schultern. “Jetzt reicht es mir, Annie. Was ist dein schauriges Geheimnis? Was steht in dem Brief deines Vaters?”
“Er erklärt, warum ich nicht die Heilige bin, für die mich fast jeder hält.”
“Was hast du angestellt?”
Sie lachte, aber es klang verzweifelt. “Nichts. Das ist ja das Absurde daran: Ich habe mir überhaupt nichts zuschulden kommen lassen.”
“Du hast aber versucht, die Leute von deiner ‘Verworfenheit’ zu überzeugen, stimmt’s? Warum hast du das getan? Damit sie nicht so schockiert über dich sind, wenn sie dein Geheimnis
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