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Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Titel: Die Letzte Liebe Meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Verhulst
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Doch jetzt konnte auch sie sich die Bemerkung nicht verkneifen, es sei schon komisch, dass die Messerschmitts der Nazis, die seinerzeit die Radieschen ihres Vaters bombardiert hatten, mit ihrem Radar den Luftraum bis nach Sibirien abhören konnten und dass dasselbe Volk oder, besser, die Kinder desselben Volks es heute nicht mal mehr fertigbrachten, mit einer Antenne die Fernsehsignale eines Nachbarlands hereinzubekommen.
    »Du wirst jetzt doch nicht rumbocken, bloß weil du deine Lieblingssendung im Fernsehen nicht gucken kannst?«
    Nein, das hatte Martine nicht vor. Schon vor der Abreise hatte sie sich damit abgefunden, ihre geliebten Figuren eine Woche lang nicht mehr zu sehen. Es war nur ein Anfall gewesen. Wie der eines Exrauchers, wenn er Zigarettenqualm riecht. Und sollte sie es eventuell gar nicht mehr aushalten, man wusste ja nie, und womöglich bleibender Schaden drohen, konnte sie immer noch die deutschen Sender einschalten. Denn auch dort lief ihre Lieblingsserie natürlich, wenn auch synchronisiert, und daher für sie nur teilweise verständlich. Lächerlich außerdem, Emma Goldrush in einem amerikanischen Schlitten über die Golden Gate Bridge gleiten zu sehen, unterwegs zu ihrem Therapeuten vielleicht, und sie dann mit einer überhaupt nicht zu ihrem Charakter passenden Stimme sagen zu hören: »Aber ich fürchte, ich würde vor Müdigkeit …«
    Als Hilfsmittel bei ersten Entzugserscheinungen konnten die deutschen Folgen sicherlich dienen. Doch Martine erwartete keine Probleme. Sie hatte sich wieder im Griff. Die sieben Tage ohne Home Is Where My Children Cry würde sie mühelos überstehen, das wusste sie jetzt.

Kapitel 19
    D ie Tische im Speisesaal des Hotels waren gedeckt, und diejenigen, die ein Zimmer im Dunsthauch der Küche gebucht hatten – zum Glück oder Unglück, wie man’s betrachtet –, spürten am steigenden Wasserstand in ihrem Mund, dass ihnen ein entscheidendes Ereignis bevorstand. Ein paar Viertelstunden nur noch, und die Nebel um Wahrheit und Dichtung in Sachen deutscher Küche würden sich lichten. Martine konnte ihre Ungeduld kaum bezwingen und hätte sich am liebsten gleich an einen Esstisch gekettet, hätte sie nicht erst noch eine kleine Pflicht zu erfüllen gehabt, und zwar ihre Eltern anzurufen.
    Ihr graute vor dem Gedanken, ins Dorf gehen zu müssen und dort eine Telefonzelle zu suchen. Außerdem hasste Wannes Telefonieren und fand es eine alberne Idee, seine kostbare Urlaubszeit an ein hohles und geldfressendes internationales Gespräch zu verschwenden, nur um zwei alte Angsthasen zu beruhigen. Denn so war’s doch. Martines Eltern hatten nie viel von der Welt gesehen; was sie davon wussten, erzählte ihnen jeden Tag ihr Vertrauter, Lucien Boussé, Moderator der flämischen Fernsehnachrichten, ihres gesprochenen Tageblatts, und dadurch waren sie genauso gut informiert wie andere, viel weiter gereiste Seelen. So wussten sie zum Beispiel, dass die Bolschewiken in Deutschland eine Mauer gebaut hatten, man dort Abhörgeräte in Nachttischlampen einbaute und die Linksextremisten der Baader-Meinhof-Gruppe mit ermordeten Arbeitgebern im Kofferraum durchs Land fuhren. Deutschland – ihnen brauchte man nichts zu erzählen, sie hatten im Krieg fünf Jahre lang Kartoffelschalen und tote Ratten gefressen – trug die blutige Last der europäischen Geschichte. Das war schon immer so, und so würde es bleiben. Lucien Boussé sagte übrigens dasselbe, und der hatte einen Universitätsabschluss. Martines Eltern konnten denn auch nicht begreifen, warum das belgische Außenministerium nicht vor Reisen in das Krisengebiet zwischen Flensburg und Friedrichshafen warnte und warum es nicht alle Diplomaten unverzüglich aus dem Schurkenstaat zurückrief. Martine hatte also gute Gründe, sich kurz bei den Eltern zu melden und ihnen zu sagen, dass sie gut angekommen waren und es unterwegs weder Straßensperren noch Sprengstoffanschläge gegeben hatte. Und dass zwar die Kopfkissen hier die Form von Bratwürsten hatten, aber auch das kein Grund zur Panik sei.
    Wannes meinte, sie solle allein telefonieren gehen, er und Jimmy würden sich inzwischen fürs Abendessen frisch machen. Das Bad sei für drei Personen ja doch viel zu klein.
    Damit war Martine auf sich selbst angewiesen und hatte ein für ihre Verhältnisse gewaltiges Abenteuer vor sich. Allein dem Unbekannten entgegen. Sie hatte jedoch, Wunder über Wunder, auf eigene Faust in dem ihr noch wildfremden Land eine Telefonzelle gefunden und

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