Die Letzte Liebe Meiner Mutter
ihres schweren Gepäcks hatte es ausgeschlossen geschienen, dass ihr irgendwas fehlen könnte, doch diese Rechnung hatte sie ohne die deutschen Kissen gemacht. Die Kopfkissen hier hatten die Form von Würsten – da sah man’s mal wieder, was für eine entscheidende Rolle die Wurst in der germanischen Gesellschaft überall spielte –, und an sich hatte Martine damit auch gar kein Problem. Schade war nur, dass sie für diese Art Kissen keine Bezüge dabei hatte und sich mit Handtüchern behelfen musste.
Als die Betten gemacht waren, wurden die Putzmittel aus dem Koffer geholt, und sie nahm sich die Kloschüssel vor, obwohl auch die, wie sie zugeben musste, blitzsauber war. Keine Spur irgendeines Vorgängers zu sehen. Und trotzdem, trotzdem … Wie alt war dieses Hotel? Keine Ahnung. Nach dem Tapetenmuster im Flur musste es jedenfalls schon einige Jahre auf dem Buckel haben, und die Schüssel hatte daher auch schon so manchen Hintern getragen. Schrubbten Putzfrauen auch wirklich sauber genug, wenn sie auf einer Schüssel nicht selbst sitzen mussten? Und schrubbten sie gründlich, wenn sie dazu noch schlecht bezahlt wurden, wie man doch leider immer annehmen musste?! Am liebsten, ehrlich gesagt, hätte Martine gleich ihre eigene Klobrille von zu Hause mitgebracht. Es gab nun mal Dinge, die man nicht gern mit anderen teilte, und eine Klobrille gehörte für sie eindeutig dazu. Angst vor einer gründlichen Zollkontrolle jedoch sowie vor dem Spott, wenn der Kofferinhalt dabei entdeckt würde, hatte sie zuletzt von ihrem Vorhaben abgehalten.
Insgesamt allerdings endete die Inspektion des Bads positiv. Es hatte eine Dusche (keiner von ihnen kannte das von zu Hause, was noch Potenzial zu Verwicklungen bot), es gab genug Klopapier, der Stöpsel des Waschbeckens ließ kein Wasser entweichen, das warme war weder zu warm noch das kalte zu kalt, man konnte gut lüften … Kurzum, sie fühlten sich wie im siebenten Himmel. Nur morgens das Waschen könnte vielleicht etwas schwierig werden, vor allem, weil Jimmy um keinen Preis wollte, dass jemand ihn komplett hüllenlos sah. Seine Mutter, okay. Lieber nicht natürlich, doch wenn’s nicht anders ging, konnte er sie im Bad noch ertragen. Doch Wannes? Dem würde er sich nie im Adamskostüm zeigen. Weder Wannes noch irgendeinem anderen Fremden!
Das Zimmer hatte sogar einen Fernseher. Die ganze Zeit hatte Martine widerstehen können, das Gerät einem klitzekleinen Test zu unterziehen, bis es sie plötzlich überkam und sie den Koloss anstellte.
»Was machst du da? Du bist doch nicht in den Schwarzwald gefahren, um die ganze Zeit vor der Glotze zu sitzen, oder?«
Im Bus hatte sie es noch verdrängen können, hatten die ständig wechselnden Landschaften für Ablenkung gesorgt, und für Momente sogar hatte sie überhaupt nicht mehr daran gedacht. Doch nun, beim Anblick dieses Geräts, eines Telefunken PAL-Color 708S, fiel ihr wieder ein, dass sie mehrere Tage ohne eine Folge von Home Is Where My Children Cry würde auskommen müssen. War Wannes überhaupt klar, was in solch einer Serie in einer einzigen Woche alles passieren konnte? Der korrupte Anwalt Philip Olufson könnte ermordet werden. Nur so zum Beispiel. Eric Crimson könnte sich mit einem Flittchen einlassen, ihm wär das zuzutrauen, dem geilen Bock. Oder Edward Armstrong könnte Heimweh nach New York bekommen und sein Warenhausimperium verkaufen. In einer Woche könnte Emma Goldrush mühelos drei Ehen auseinanderbringen. Wie sollte man in der Serie noch mitkommen, wenn man all diese genialen Handlungsumschwünge verpasst hatte? Eine Woche in Home Is Where My Children Cry , das war der Unterschied zwischen Proterozoikum und Renaissance! Doch angesichts dieser Zimmerausstattung überkam Martine ein Fünkchen Hoffnung: Es gab einen Fernseher, in Farbe sogar, gesegnet sei der Herr, amen, und sie schaltete sich durch die Programme, auf der Suche nach dem niederländischsprachigen belgischen Sender. Doch ohne Erfolg. Und unbegreiflich.
Es musste ein Fluch sein, nach 45 noch als Deutscher herumlaufen zu müssen, von Hollywood systematisch dargestellt als bleicher, sadistischer Neurotiker, der seine homosexuellen Neigungen zu unterdrücken versuchte. Jeder Mensch mit einer Spur Einfühlungsvermögen musste Mitleid mit der Nachkriegsgeneration haben, die stets aufs Neue, wohin sie auch ging, an Gräuel erinnert wurde, für die sie selber nichts konnte. Auch Martine fand das. Es war ungerecht, für seine Eltern büßen zu müssen.
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