Die Letzte Liebe Meiner Mutter
die ganze Tour relativ gut überlebt. Zur Belohnung würde sie sich später die Woche genüsslich ein Stück Torte genehmigen.
Martine war gerade rechtzeitig von ihrem Telefonabenteuer zurück, um den Gratis-Willkommenstrunk des Gasthofs Knusperhaus mitzubekommen. Sie bemerkte sofort, dass Wannes und der Kleine während ihrer Abwesenheit Knatsch gehabt hatten. Mit kriegslüsternen Mienen saßen die zwei sich am Tisch gegenüber. Der Jüngere mit seinem bekannten Flunsch. Der Ältere mit von hohem Blutdruck gerötetem Kopf. Doch im Augenblick passte es gar nicht, darüber zu reden, denn gerade hieß der Hotelbesitzer alle feierlich und von Herzen willkommen und erklärte, dass es ab morgen nicht drei, sondern vier Mahlzeiten pro Tag geben würde, eine Nachricht, die mit lautem und andauerndem Applaus quittiert wurde. Im Schwarzwald, wurde ihnen erklärt, kenne man auch noch die Vesper, eine Art Vorabendbrot. Das ging zum Teil auf Martin Luther zurück, der die übertriebene Frömmigkeit der Stundengebete abgelehnt und als Alternative empfohlen hatte, die Vesperpsalmen durch ein Mahl zu ersetzen. Denn, und das wusste sein Volk, vor allem fressend kam man näher zu Gott.
Vespermahlzeiten bestanden in der Regel aus Bauernbrot, Speck, Blutwurst und einer rohen Zwiebel. Natürlich gingen überall auf der Welt von so einem Essen Lebern kaputt, außer in Deutschland, wo man seinen Verstand benutzte und Schnaps dazu trank, um die Verdauung zu unterstützen.
Dass das Luthertum nicht bis in die letzten Winkel der Welt vorgedrungen war, blieb ein Mysterium, das Doktoranden vor immer neue intellektuelle Herausforderungen stellte.
Heute Abend, fuhr jetzt der Reiseleiter fort, bliebe die Bar etwas länger geöffnet, damit alle Gelegenheit hätten, sich besser kennenzulernen. Auch Akkordeonmusik werde es geben, sie hätten heute lang genug stillgesessen.
Für Wannes und Martine stand das Programm damit fest. Sie hatten den anderen noch eine Runde auszugeben und wollten das lieber gleich an diesem Abend hinter sich bringen. Gut und viel essen, einen besseren Rat wusste auch Martine nicht, um diese Aufgabe mit frischen Kräften in Angriff zu nehmen.
Erst als die Kellner die Herzen und Mägen erfreuten und endlich mit dampfenden Tellern Rinderbouillon herangeeilt kamen, als der Raum von Dutzenden Gesprächen bei Tisch widerhallte, von lautem Lachen, umgestoßenen Gläsern und auf Tellerböden kratzenden Löffeln, hielt Martine den Moment für gekommen, ihre Lieben zu fragen, warum sie so ein Gesicht machten. Hatten sie sich etwa gestritten, während sie telefoniert hatte?
»Gestritten? Gestritten , sagst du? Wenn’s das nur wäre! Der Kleine will kein Wort mit mir reden! Kein Laut kommt über die Lippen des gnädigen Herrn. Als wär ich für ihn ein Stück Dreck!«
»Er wollt mir beim Duschen zusehen!«, verteidigte sich Jimmy.
Am Tisch nebenan wurde es mucksmäuschenstill. Dabei erzählte einer gerade einen vielversprechenden Witz.
»Ich muss doch nachsehen, ob er sich ordentlich wäscht!«, erwiderte Wannes, laut genug, um die Lauscher am Nebentisch zu beruhigen. »Wie oft steigt er zu Haus nicht mit den Ohren voll Schmalz aus der Wanne, oder mit Krusten, wo das Sonnenlicht nur bei Nudisten hinkommt!«
( Warum können die hier keine Musik spielen, verdammt noch mal? In allen Restaurants auf der Welt, mit oder ohne Sterne, läuft doch Musik! )
»Und außerdem: Ich werd doch wohl kontrollieren dürfen, ob du dich richtig gewaschen hast? Du wirst dich doch nicht vor dem eigenen Vater genieren?«
Vielleicht, dachte Martine ganz modern, hat der Junge eine Vitricophobie und muss nach dem Urlaub – wie Maggie Armstrong in Folge 6 von Home Is Where My Children Cry – in Therapie!
Vitricophobie: Angst vor dem Stiefvater. Wozu ein medizinisches Lexikon nicht alles gut war!
Darauf suchte sie Augenkontakt mit dem Kellner und bat um noch etwas Suppe.
Kapitel 20
W as war der große Unterschied zwischen einem Mann und einer Frau?
Die Reisegesellschaft hing schlaff und pappsatt in den Sesseln der Bar. Der sakrale Moment, in dem die Gelegenheitsraucher zu einer Zigarre griffen oder sich eine Pfeife stopften, die sie im vergangenen Urlaub oder nach dem Neujahrsdiner zum letzten Mal ausgeklopft hatten. Cognacgläser wurden geschwenkt und unter die Nase gehalten, Hosengürtel gelockert und die vom Schnaps geröteten Wangen der Damen im Lufthauch des Deckenventilators gekühlt. Man hatte dem Alkohol schon reichlich zugesprochen, so
Weitere Kostenlose Bücher