Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
gedreht wurde – kommt er ihnen um ein Vielfaches länger vor. O’Hara hält nur durch, indem sie sich auf die Zeitachse konzentriert, die sie auf dem Briefbogen des Hotels notiert hat. Im Kopf geht sie immer wieder den Zeitablauf durch, bis sie schließlich weiß, was in den fehlenden hundertelf Minuten passiert ist.
»20.30 Uhr«, murmelt O’Hara vor sich hin, »Pena lässt McLain in ihrem Apartment sitzen und geht die Orchard Street in nördlicher Richtung entlang. Sie passiert Joe’s Drapery und Adrienne’s Brautmoden, an American Apparel biegt sie links in die Houston und nimmt die Treppe in die U-Bahnstation 2nd Avenue. Mit einem Zug der Linie F fährt sie zur 34th Street, rennt zur Penn Station und nimmt einen Zug der Linie 1 Richtung Norden. Um 21.06 Uhr steigt sie Broadway Ecke 168th Street aus. Acht Minuten später verschwindet sie mit Moreal und Consuela wieder in der Station 168th Street und wird auf dem Bahnsteig Richtung Innenstadt gefilmt. Eine knappe Stunde später kauft sie zwei CDs bei Tower Records an der Ecke Broadway und East 4th. Aber vorher liefert sie ihre beiden kleinen Schwestern in der 2nd Avenue 972 ab. Um 22.30 Uhr trifft Pena ihre Freundinnen im Freemans und obwohl diese irgendwann gehen, bleibt sie noch länger. Nicht, weil sie auf einen Kerl scharf ist, wie sie behauptet, und auch nicht, weil sie ihrem Exfreund aus dem Weg geht, sondern weil sie wartet, bis es Zeit ist, die Mädchen wieder abzuholen.«
Während O’Hara die letzten Lücken auf ihrer Zeitachse schließt, fällt ihr noch etwas anderes ein. Pena strippte und ging auf den Strich, weil sie in Wirklichkeit Freier für Consuela und Moreal anwerben wollte. Wenn jemand eine entsprechende Neigung hatte, fand sie das mit Hilfe ihrer Kleine-Mädchen-Nummer bei einem einzigen Treffen heraus. »Mister, ich sehe, Sie stehen auf Sex mit kleinen Mädchen? Wie wär’s, wenn ich Ihnen welche beschaffe?«
Das Video beantwortet viele Fragen, allerdings nicht die, wer Pena ermordet hat. Laut Anzeige in der linken oberen Bildschirmecke kam Delfinger nicht als Killer in Frage. Er war zu der Zeit hier und anderweitig beschäftigt gewesen.
45
Endlich treffen die Kriminaltechniker ein und sichern die Spuren am Tatort. Sie wechseln die Schlösser an Delfingers Tür und sichern außerdem die sechs Fenster zur Nachbarwand. Es ist sieben Uhr morgens, als O’Hara und Krekorian gehen. Die Sonne ist bereits halbwegs über einem hoffnungslosen Freitag im Dezember aufgegangen. An der Ecke zwischen 52nd und 2nd Avenue wurden die Zeitungskästen bereits neu aufgefüllt und die konkurrierenden Titelseiten verkünden reißerisch McLains Festnahme. DER MANN MIT DEM TRANSPORTER titelt die Daily News. FAHRENDE HÖLLE brüllt es von der Post zurück. Fußgänger eilen vorbei, ohne die Überschriften zur Kenntnis zu nehmen. O’Hara kommt es vor, als sei die Stadt über Nacht in ein Paralleluniversum verschwunden, in dem es nur noch falsche Informationen und trügerische Hoffnungen gibt.
O’Hara und Krekorian steigen in ihren Impala und fahren auf der Seite Central Park South in den Park hinein. Sie sind froh darüber, dass die bittere Kälte die meisten Jogger abschreckt. Nördlich des Reservoir verlässt Krekorian die Straße, hält auf dem matschigen Gras und kurbelt sein Fenster herunter.
»Du hast da drin ziemlich Irisch gewirkt«, sagt O’Hara.
»Fandest du? Ich seh mir im Moment lieber Bäume an als Menschen.«
»Die ficken wenigstens keine Kinder.«
Krekorian guckt über die Baumkronen hinweg, atmet die kalte Parkluft tief durch die Nase und versucht mit jedem Atemzug, die Erlebnisse aus Delfingers Apartment in sich abzutöten. »Ich hab dir nicht alles von meiner Mom erzählt«, sagt er. »Sie war auch drogensüchtig. Kein Straßenjunkie wie die Mutter von den beiden Mädchen, sondern eine echte Vorstadtabhängige aus der Mittelschicht.«
»Das Schlimmste war«, fährt Krekorian fort, »dass ich ihr Lieblingssohn war. Das bedeutete, dass ich die lange Liste ihrer Quacksalber abklappern durfte, um für sie um mehr Quaaludes und Vicodin zu betteln. Ich habe die Rezepte immer auf dem Heimweg vom Basketballtraining abgeholt. Und ich war auch derjenige, dem sie die ganzen Geschichten erzählt hat. Was für ein entsetzlicher Typ und Verlierer mein alter Herr war und dass sie mit jedem anderen von den Dutzenden von Männern, die ihr Anträge gemacht hatten, besser dran gewesen wäre. Ein Wunder, dass ich nicht schwul geworden
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