Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
wiedersehen.
Würde sich Jack Ming dort verstecken, wo er sich mit der CIA treffen wollte? Durchaus möglich. Ich an seiner Stelle würde jedoch versuchen, in Bewegung zu bleiben. Es war riskant, sich in einem Haus zu verstecken, das seinem Vater gehörte.
Andererseits war er ein Student und kein ausgebildeter Agent. Er war ja auch nach Hause zurückgekehrt, ungefähr das Gefährlichste, was er tun konnte, falls seine falsche Identität in den Niederlanden aufgeflogen war. Wahrscheinlich wusste er noch nicht, was mit seiner Mutter passiert war, und so fühlte er sich vielleicht sehr sicher in diesem leerstehenden Haus.
Er hatte den Schlüssel bestimmt nicht ohne Grund mitgenommen.
Das Haus, ein roter Klinkerbau mit vernagelten Fenstern, war feindliches Territorium. Ich hatte es gestern nur im Dunkeln gesehen, doch jetzt bei Tageslicht erschien es mir schwer zu verteidigen. Zwei Straßen weiter war ein Markt in vollem Gang, sodass viele Besucher hier vorbeikamen.
Ich ging mit ein paar Minuten Verspätung zum Haus hinunter. Falls Jack drinnen war, sollte er mich erst im allerletzten Moment sehen. Ich hatte keine Ahnung, ob er mich bei der Schießerei in Amsterdam gesehen hatte und ob ihm mein Gesicht in Erinnerung geblieben war.
Während ich zur Eingangstür schritt, fuhr ein Volvo mit einem Kennzeichen von New Jersey vor. Zwei Frauen stiegen aus. Na, toll, dachte ich: Falls Jack Ming sich hier verschanzt hat und wild um sich schießt, habe ich gleich zwei Personen zu beschützen. Sie trugen praktisch identische Nadelstreifenanzüge. Vielleicht gab es in Mrs. Mings Firma bestimmte Bekleidungsvorschriften. Beide waren etwa Ende zwanzig. Die eine brünett, mit dunklen Augen und einem freundlichen Lächeln. Die andere war blond, etwas größer und hatte einen stahlharten Blick. Irgendetwas in ihrem Gesicht wirkte befremdlich, so als wäre das Lächeln nur aufgesetzt.
» Mr. Capra?«, fragte die Brünette.
» Ja.«
» Beth Marley.« Wir schüttelten einander die Hand. » Das ist meine Kollegin Lizzie.«
Sie streckte mir die Hand entgegen, ich schüttelte sie, und sie hielt sie einen Augenblick länger als nötig. » Oh, was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?«, fragte sie mit einem seltsamen Ton in der Stimme, es klang fast ein bisschen enttäuscht. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde die Hand ausstrecken und mein blaues Auge berühren.
» Sie sind doch wohl nicht in eine Schlägerei in der Bar geraten?«, fragte Beth.
» Doch«, antwortete ich. » Der Kerl wird nie wieder die Zeche prellen.«
» Oh, wie brutal«, sagte Lizzie, immer noch lächelnd. Wahrscheinlich bekamen die Mitarbeiter einer Immobiliengesellschaft auch so einiges zu sehen.
» Haben Sie vielleicht einen Ausweis dabei?«, fragte Beth.
Ich verstehe, dass die Mitarbeiter von Immobilienfirmen vorsichtig sein müssen, wenn sie ständig mit fremden Leuten leerstehende Gebäude betreten. Ich gab ihr meinen Führerschein und die Businesskarte meiner Bar, die immerhin respektabler aussah als ich selbst. Sie begutachtete meine Papiere und gab sie mir zurück.
» Okay, gehen wir rein?«, schlug sie vor und deutete zur Tür.
Ich nickte.
Beth schloss die Tür mit ihrem Schlüssel auf, trat ein und tippte den Code in ein Zahlenfeld an der Wand. Sie verbarg ihren Finger nicht, und ich merkte mir den Code: 49678. Sie zögerte kurz, als erwarte sie, dass der Alarm losging, doch im nächsten Moment leuchtete das grüne Licht auf. Ich trat rasch von ihr weg, damit sie nicht mitbekam, dass ich sie beobachtet hatte. Stattdessen wandte ich meinen kritischen Blick der Decke zu, wie um zu prüfen, ob irgendwo Wasser eindrang. Lizzie blieb in meiner Nähe. Ein bisschen zu nah. Sie war mir gleich unsympathisch.
Ich sah eine halbfertige Gipskartonwand. » Hat hier jemand angefangen umzubauen und vergessen, es zu Ende zu führen?«
» Sieht so aus. Falls Sie das Haus mieten, werden wir das natürlich vorher entfernen.«
Beth begann die Vorzüge des Gebäudes anzupreisen. Ich ließ sie vorausgehen, trat aber immer als Erster durch jede Tür. Ich hielt Jack Ming– falls er sich tatsächlich hier versteckt hielt– nicht unbedingt für jemanden, der sofort losballerte; ich wusste nicht einmal, ob er eine Waffe besaß. Doch ich wollte nicht riskieren, dass den beiden Frauen etwas passierte.
Wir besichtigten das ganze Haus. Erdgeschoss und erster Stock waren als Büroräume konzipiert. Beth rasselte ihr ganzes Repertoire herunter, das man in ihrem Beruf auf
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