Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
getrennt. Jack sprintete zwischen den Hindernissen auf dem Dach hindurch und sprang über den schmalen Spalt zum nächsten Haus.
Die meisten Leute würden vor einem Sprung in dieser Höhe zurückschrecken. Er nicht. Mutig. Oder verzweifelt.
Mit den Armen erwischte er die Mauer. Er schrie auf, dann zog er sich hoch und schwang sich über die Brüstung.
Jetzt war ich dran. Ich ging so vor, wie ich es vom Parkour-Lauf gewohnt war: die Hindernisse erkennen und den schnellsten und effizientesten Weg finden, sie zu überwinden. Ich timte den Sprung und flog durch die Luft. Landete auf dem Nachbardach und rollte mich ab. Meine Muskeln brannten wie Feuer, sie hatten solche Leistungen lange nicht mehr erbringen müssen. Jack hatte sich schon ein gutes Stück entfernt, sprintete quer über das Dach. Einmal blickte er kurz zurück, ich sah die Angst in seinen Augen. Er gab einen Schuss ab und rannte weiter.
Jag ihn einfach vom Dach runter, dachte ich. Wenn er aus dieser Höhe hinunterstürzt, ist er garantiert tot. Und Daniel ist in Sicherheit.
Ich rannte. Er durfte mir nicht entwischen. Daniel verdrängte jeden anderen Gedanken. Es war ein uralter Instinkt, der mich in diesem Moment antrieb, der mir sagte, was ich zu tun hatte. Er hatte fünfzig Meter Vorsprung, und ich musste ihn fangen.
Vierzig Meter. Er zog sich an einem Transparent hinauf, mit dem für neu sanierte Wohnungen geworben wurde, und kletterte auf das Dach des angrenzenden Gebäudes. Ich hetzte hinterher. Er stolperte. Ich blickte mich kurz um. Das Dach, von dem wir kamen, war leer, aber schon sehr bald würden hier jede Menge Polizisten erscheinen. Nachdem das Motorrad hinuntergestürzt war und Schüsse gefallen waren, würden sie mehr als einen Streifenwagen herschicken.
Die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, doch ich konzentrierte mich auf die Verfolgung. Jack ließ nicht locker, der Selbsterhaltungstrieb verlieh ihm erstaunliche Kräfte. Doch ich war auf solche Situationen trainiert und deshalb schneller als er.
» Polizei!«, hörte ich eine Stimme über die Dächer dröhnen. » Halt! Waffen fallenlassen!«
Ich blickte zurück. Zwei Polizisten waren durch die Tür heraufgekommen, an der mir Jack fast eine Kugel in den Kopf gejagt hätte.
Ich wandte mich wieder Jack zu.
Verschwunden.
Ich überblickte das nächste Dach: Jack hatte es bereits überquert und musste auf ein niedrigeres Dach gesprungen sein, während ich mich nach den Polizisten umgedreht hatte. Jetzt hatte ich ihn verloren. Nein.
» Halt!«, rief der Polizist erneut, als ich mich auf das Dach vor mir schwang, bis zur Kante lief und auf das Nachbardach sprang. Hier ging der Fluchtweg zu Ende: Schornsteine, Lüftungsanlagen und eine Tür zur Treppe ins Haus hinunter. Auf dem Dach waren Geräte und Werkzeug abgestellt, ein Baugerüst ragte über die Dachkante hinaus. Das Haus wurde gerade gründlich saniert. Hatte er sich hier oben irgendwo versteckt? Oder war er durch die Tür ins Haus gelangt? Falls er sich unter einer Treppe verbarg, würde ich an ihm vorbeilaufen. Panik stieg in mir hoch. Ich lief zur Tür. Ich musste mich schnell entscheiden: Die Polizisten gaben meine Position weiter, und andere Einheiten würden versuchen, mich abzufangen.
Als ich um die Ecke bog, um zur Tür zu gelangen, schlug Jack mit einem schweren Blumentopf zu. Ich riss den Arm hoch, um mich zu schützen, und der Knochen brannte wie Feuer. Ich stürzte, er hob die Pistole und drückte ab. Es klickte nur: leer. Er stöhnte frustriert.
Ich hämmerte ihm den Fuß in die Magengrube. Er stieß einen grunzenden Laut aus und wankte zurück.
» Polizei! Auf den Boden!« Sie kamen näher. Vielleicht noch vierzig Meter. Zwei von ihnen hatten die Verfolgung aufgenommen. Die anderen Cops scheuten vermutlich den Sprung, den Jack und ich gewagt hatten.
Ich sprang auf.
» Bitte, tun Sie’s nicht. Töten Sie mich nicht.« Seine Stimme klang flehend, von Tränen verzerrt. Er rüttelte an der Tür: verschlossen.
Ich packte ihn mit meinem gesunden Arm.
Ich hatte daran gedacht, ihn gegen Novem Soles zu benutzen, als eine Art Sicherheit, um meinen Sohn zurückzubekommen: ein verrückter Plan, der ohnehin nicht funktioniert hätte.
Doch dafür blieb jetzt ohnehin keine Zeit mehr. Mein rechter Arm war lädiert, nachdem er mich mit dem Blumentopf getroffen hatte. Ich hätte ihm das Genick brechen können, hätte ich nur eine Minute Zeit gehabt. Doch die Polizisten rückten an, waren nur noch etwa zehn Meter entfernt.
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