Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
Babbage, Ada Lovelace und Steve Jobs. George R. R. Martins epische Fantasien. Gebundene Sammelbände verschiedener Comicreihen: Iron Man, Spider-Man, The Avengers.
Jack Ming auf Fotos von Collegefesten. Sein Lächeln wirkte schüchtern, aber ehrlich. Auch ein wenig gezwungen, so als wäre das Fest nicht unbedingt seine Sache. Sein Haar war damals länger, sein Gesicht voller. Seine Freunde grinsten angeheitert und hatten ihre schützenden Arme um Jacks schmale Schultern gelegt.
Er war einfach nur ein Junge, zum Teufel noch mal, ein Junge, den ich umbringen musste.
Es war kühl in der Wohnung, doch mir lief der Schweiß über den Rücken, als ich ins Badezimmer ging. In der Duschkabine sah ich ein paar Wassertropfen. Das Bad war mit seinem Zimmer verbunden. Es gab keinen Grund, warum jemand anderes hier geduscht haben sollte.
Jack Ming war hier gewesen. Wahrscheinlich noch vor einer Stunde. Womöglich hatte ich ihn nur um wenige Minuten verpasst, als ich in der Sushi-Bar meinen Beobachtungsposten bezog.
Daniel musste vielleicht sterben, weil ich ihn verpasst hatte.
Eine dünne Staubschicht bedeckte seinen Schreibtisch. Es sah nicht so aus, als hätte er hier irgendetwas abgestellt. Eine leichte Vertiefung im Bett, wo er gesessen hatte.
Er war hierhergekommen und wieder gegangen. Ohne seine Mutter. Hatte er sich von ihr verabschiedet? Half sie ihm nicht? Der verlorene Sohn kehrte zurück, als Flüchtling, doch bereits nach einer Stunde verschwindet er, und seine Mom fährt in einer Limousine weg, mit einem Fahrer, der aussieht wie ein Boxtrainer für das russische Olympiateam.
Was hatte Jack Ming hier gewollt? Mehr, als seiner Mutter Lebewohl zu sagen?
Ich kehrte in ihr Zimmer zurück und durchsuchte es rasch, aber gründlich. Ich fand nichts Interessantes. Sandra Ming schien sich in ihrem Alltagsleben auf die notwendigen Dinge zu beschränken: Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Ich hob es auf und wählte die Nummer des letzten Anrufers.
Nach dem vierten Klingeln hob jemand ab. Doch es folgte Schweigen.
Ich wartete. Die andere Seite wartete. Ich hörte ganz leises Atmen.
Ich versuchte es. » Hallo, ich rufe im Namen von Mrs. Mingan.«
Die andere Seite legte auf.
Wen würde sie anrufen, wenn ihr Sohn ganz unerwartet nach Hause kommt? Denjenigen, der den Mann mit der Limousine zu ihr geschickt hatte?
Ich ging ins Arbeitszimmer. Jack Mings Vater Russell hatte im Tollhaus des Hongkonger Immobiliengeschäfts begonnen und schließlich hier seine eigene Immobiliengesellschaft gegründet. Gerahmte Fotos an den Wänden zeigten ihn zusammen mit Jack, den Arm um seinen Sohn gelegt. Jack war offenbar jemand, dem die Leute gern den Arm um die Schultern legten. Vielleicht weckte er bei anderen einen gewissen Beschützerinstinkt. Ich wollte diese Fotos nicht sehen, wollte ihn mir nicht als jemandes Sohn vorstellen, so wie Daniel es war. Er musste für mich eine Zielperson bleiben, ohne Gesicht, ohne menschliche Züge. Am liebsten hätte ich gar nichts über sein Leben gewusst, sondern nur wie ich es am schnellsten beenden konnte.
Es gab keine gemeinsamen Fotos von Mr. und Mrs. Ming. Auch das Fehlen eines Bildes kann viel aussagen. Die dünne Staubschicht auf dem Schreibtisch war an einigen Stellen unterbrochen. Mrs. Ming schien nicht hier zu arbeiten, ich sah keine Unterlagen oder Akten. Ein Bildschirmschoner tanzte über den Monitor. Ich inspizierte die Tastatur. Staub auf einigen Tasten, auf anderen nicht. Irgendjemand hatte zum ersten Mal nach langer Zeit hier geschrieben. Jack.
Ich bewegte die Maus, und der Computer erwachte zum Leben. Er war nicht durch ein Passwort geschützt. Der Bildschirmhintergrund zeigte ein Bild von Jack und seinem Vater. Wenige Mausklicks lieferten mir die heute benutzten Anwendungen: Word, Excel, Firefox. Ich startete sie nacheinander, checkte die letzten Aktivitäten und öffnete die entsprechenden Dateien. Die Excel-Tabellen waren über ein Jahr alt und von Russell Ming angelegt worden. Die Word-Dateien stammten ebenfalls von ihm, und auch sie betrafen sein Geschäft mit Ausnahme eines Briefes an seinen Sohn Jack.
Während ich las, hatte ich das Gefühl, in ein Grab zu blicken. Ich wollte das nicht lesen, doch ich konnte nicht anders, es war wie ein zufällig gefundenes Tagebuch, auf einer ganz bestimmten Seite aufgeschlagen.
Lieber Jack, zuerst etwas, das du ohnehin weißt, aber ich will es trotzdem sagen: Ich hab dich lieb. Meine Liebe kann durch nichts, was du getan hast oder
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