Die letzte Nacht
Morgen, einem Freitag, stellte er sich freudig auf den vor ihm liegenden Arbeitstag ein. Die Familie Belloni wohnte in Ravecchia, einem Viertel in der Nähe der Bank, sodass der Direktor zu Fuß ins Büro gehen konnte. Ein Spaziergang von einer Viertelstunde, ein wenig Bewegung nach dem Frühstück. Im Winter schützte er sich mit einem bunten Schal – ein Weihnachtsgeschenk vom vergangenen Jahr – und einem Filzhut vor der Kälte. Er war immer gut gelaunt, wenn er die Bank betrat.
»Guten Morgen, Herr Direktor!« Giuseppe, der Portier, begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. »Ganz schön frisch heute früh …«
»Es wird Schnee geben, Giuseppe!« Der Direktor ging ohne anzuhalten an der Portiersloge vorbei und nickte dem Angestellten hinter dem Schalter zu. Dann steuerte er an einem mit blinkenden Lichtern dekorierten Plastikweihnachtsbaum vorbei auf den Aufzug zu. Die Büros lagen im ersten Stock. Unterwegs zog er sich Schal und Hut aus: Die Räume waren überheizt, sodass die meisten Angestellten nur im Hemd arbeiteten.
Bellonis Büro war ein Eckzimmer am Ende des Flurs. Dank zweier großer Fenster hinter und neben dem Schreibtisch konnte er tagsüber nahezu ganz auf künstliches Licht verzichten. Um acht Uhr früh war es jedoch noch zu dunkel, deshalb schaltete Belloni die Decken- und die Schreibtischlampe an. Das Büro war gemütlich, aber schlicht. Außer einem Bild von seiner Frau und seinen Kindern, enthielt es keine persönlichen Gegenstände. An den Wänden hingen Gemälde von Nag Arnoldi und Felice Filippini. Vor dem Schreibtisch standen zwei von jenen Besuchersesseln, in denen man vollkommen versinkt, sobald man es wagt, sich zurückzulehnen.
Belloni dagegen saß auf einem mit schwarzem Leder bezogenen Drehstuhl. Die Ablagefläche vor ihm war leer. An der einen Seite ein Bildschirm und die Computertastatur. Der Direktor nahm die Brille ab, ein elegantes und sportliches Modell, so der Optiker, der sie ihm verkauft hatte. Er reinigte die Gläser und setzte sie wieder auf. Dann drehte er sich um und betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er seufzte zufrieden. Hier war er in seinem kleinen Reich. Jede Geste war wohlüberlegt, kein Wort überflüssig. Hier drinnen gab es keinen Raum für Lärm und Gedränge, für das weihnachtliche Durcheinander und die damit verbundene Massenhysterie.
»Herr Direktor?«, meldete sich Beatrice, seine Sekretärin. »Signor Koller aus Zürich am Apparat.«
Sie fragte nicht, ob sie das Gespräch durchstellen sollte … Zürich hatte immer Vorrang.
»Herr Koller«, sagte Belloni auf Deutsch. »Es freut mich, von Ihnen zu hören. Wie steht’s in Zürich?«
»Gut, obwohl es hier ziemlich kalt ist! Ich beneide Sie und Ihre Kollegen um das Klima im Tessin!«
Belloni reagierte, wie es sich gehörte, mit einem Lachen. Es war schwierig, den Deutsch-Schweizern begreiflich zu machen, dass das Tessin kein Tropenland ist.
»Ich rufe wegen dieser Operation am Sonntag an …«
»Natürlich«, Belloni war auf der Hut. »Wir sind bereit.«
»Gut. Dann werde ich Ihnen in ein paar Minuten die Telefonnummer von Claudio Melato durchgeben. Für alle Fälle. Er ist es, der das Geld überbringt. Sie können mir danach eine E-Mail schicken, um Bescheid zu geben, ob alles glatt gelaufen ist.«
»Natürlich. Soll ich mich mit Herrn Melato in Verbindung setzen?«
»Das ist nicht nötig. Er kennt die Details der Operation. Rufen Sie ihn an, falls irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen, denn er reist aus dem Ausland an.«
»Natürlich. Aber das wird nicht der Fall sein.«
Belloni wusste, dass der Transfer nicht ganz sauber war. Zehn Millionen auf einmal, in einer kleinen Filiale … und mit einer Vertraulichkeit, die nur bei heiklen Zahlungen an den Tag gelegt wurde. Solche Operationen waren selten: Aber offenbar hatte angesichts der anhaltenden Krise einer von der Führungsebene beschlossen, es zu wagen.
»Wir sind uns also einig, Herr Belloni? Sie wissen, was Sie nach der Übergabe zu tun haben?«
»Natürlich. Noch am Sonntag wird alles unter Dach und Fach sein.«
Koller hatte ihm genaue Anweisungen gegeben. Belloni sollte noch am selben Tag das Geld weiterleiten, ohne dass es auf den nach Neujahr vorgelegten Konten auftauchte. Die im Züricher Hauptsitz indossierte Einzahlung würde abgeschrieben, indem sie als Mindereinnahme auf andere Junker-Filialen, in denen das Geld nie aufgetaucht war, verteilt würde. Belloni musste diese Arbeit allein erledigen, ohne weitere
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