Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Kerkerzelle das Amt ihres Mannes versah, mein modisches Desinteresse missfallen musste. Aber das konnte mich nicht kümmern. Das einzig Wichtige war die Suppe. Mit jedem dampfenden Löffel kehrten meine Kräfte wieder.
Als ich fertig gegessen hatte, sah ich mich um. Der Raum, in dem ich festgehalten wurde, war ungeheuer groß – mindestens vierzig Fuß lang, wie mir schien. Sonnenlicht strömte durch mehrere vergitterte Fenster in einer der hohen Steinmauern und beleuchteteeinen rissigen Holzfußboden. Die einzigen Möbelstücke waren mein Bett, ein kleiner Tisch und Lady Kingstons Stuhl.
Die Frage war mir wohl vom Gesicht abzulesen.
»Im Allgemeinen bringen wir hier keine Gefangenen unter«, sagte Lady Kingston mit einem Schulterzucken. »Aber die Räume sind fast alle besetzt, und wir wollten Euch nicht unter all den Männern einquartieren.«
Ich richtete mich höher auf. »Ist mein Vater auch im Tower?«
Lady Kingston nahm das Tablett vom Bett und stellte es auf den Tisch. Dann setzte sie sich wieder und sah mich ruhig an.
»Ihr habt im Schlaf gesprochen, bevor ich Euch weckte«, sagte sie. »Ihr habt nach Eurer Mutter gerufen, aber auch nach einigen anderen Personen. Ich hörte etwas von einem Engel.«
»Ich habe geträumt.«
»In der Tat?«
Bess, die Dienerin, trat an ihre Seite. »Sir William lässt Euch sagen, dass Eure Anwesenheit in der Wohnung des Gouverneurs gewünscht wird, Milady«, meldete sie leise.
»Nun gut.« Lady Kingston erhob sich. »Bereite sie vor, Bess.«
Ich sah ihr nach, als sie in hoheitsvoller Haltung hinausrauschte, und fragte mich, worauf ich vorbereitet werden sollte. Und während die letzten Fasern meines seltsamen Traums in Nichts zerflatterten, packte mich eisige Furcht.
Kaum war die Tür hinter Lady Kingston zugefallen, ergriff Bess meine Hand. »Sagt ihr nichts, ich bitte Euch.«
Ich betrachtete sie genauer. Sie schien mir etwa dreißig Jahre alt zu sein. Die tiefen Pockennarben auf ihren Wangen und ihrem Kinn verrieten, dass die Krankheit sie schwer getroffen, wahrscheinlich an die Schwelle des Todes gebracht hatte. Aber mich beeindruckten vor allem ihre Augen. Sie glänzten, sie leuchteten, ja sie blitzten regelrecht. Sie schien wie verwandelt durch meine Anwesenheit.
»Warum?«, fragte ich und versuchte, meine Hand ihren schweißfeuchten Fingern zu entziehen.
»Sie ist seine Zuträgerin«, stieß sie in fiebriger Hast hervor. »Sie beruhigt die Frauen und sorgt für sie. Und dabei fragt sie sie aus. Die Fragen klingen ganz harmlos, aber sie schreibt alles auf, was dieFrauen sagen, und erzählt es ihrem Mann, und der schreibt es dann an den Lordsiegelbewahrer, Thomas Cromwell.«
»Ist das so verwunderlich?«, fragte ich.
»Ihr hättet sie mit Königin Anne erleben sollen. Sie ist verrückt geworden, die Königin, meine ich, als der König sie festsetzen ließ. Sie hat geschrien und geweint und dann wieder gelacht wie eine Wahnsinnige. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Lady Kingston hat Tag und Nacht bei ihr gewacht und ihr gut zugeredet. Und sie hat jedes Wort der Königin aufgeschrieben. Vor Gericht haben sie dann alles gegen sie verwendet, wie ich gehört habe.«
Ich schwang die Beine aus dem Bett und riss mich von Bess los. »Sprecht mir nie wieder von Anne Boleyn.« Als ich vor ihr zurückwich, schlug ich mir den Kopf an irgendeinem eisernen Gegenstand an. Es war ein Ring von gewaltiger Größe, der an der Mauer befestigt war.
»Was ist das?« Ich rieb mir den Kopf.
Bess kam mir lächelnd nach. »Da haben sie den Elefanten angekettet.«
»Den was?«
»Den Elefanten.«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte wieder, ihr aus dem Weg zu gehen. »Du bist hier die Verrückte.«
»Nein, nein, nein«, widersprach sie. »Ich sage Euch die Wahrheit. Ihr seid hier nicht im White Tower. Ihr befindet Euch nicht da, wo die Rebellen aus dem Norden und die anderen Gefangenen eingekerkert sind. Sie wussten nicht, wohin mit Euch, da haben sie eine Bettstatt in den West Tower schaffen lassen. Wo die Tiere gehalten werden.«
»Was?«
»Wisst Ihr denn nicht von der königlichen Menagerie? Hier, in diesem Raum, stand der Elefant, den König Ludwig von Frankreich König Heinrich III. zum Geschenk gemacht hatte. Es war der einzige Elefant. Als er starb, gab es nie wieder einen neuen. Aber der König war stolz auf seinen Elefanten und hat ihm eigens dieses Gelass hier bauen lassen.«
Es dämmerte mir, dass Bess vielleicht die Wahrheit sprach.
»Später wurden hier
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