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Die letzte Odyssee

Die letzte Odyssee

Titel: Die letzte Odyssee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke
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Fluglehrer behauptete, er hätte nie einen besseren Schüler gehabt; aber vielleicht sagte er das zu jedem.
    Nachdem Poole ein Dutzend Flüge in einem Raum mit vierzig Metern Seitenlänge absolviert hatte und verschiedenen Hindernissen mühelos ausgewichen war, bekam er die Freigabe für seinen ersten Alleinflug – und war fast so nervös wie damals mit neunzehn Jahren, als er zum ersten Mal mit der uralten Cessna des Aeroklubs von Flagstaff starten sollte.
    Sein Jungfernflug sollte im ›Vogelhaus‹ stattfinden. Der etwas phantasielose Name vermittelte keine Vorstellung von der Realität. Das ›Vogelhaus‹ war ebenso groß wie die Wald- und Parklandschaft auf der Etage mit Mondschwerkraft, beide füllten ein Geschoß des Turms, der sich nach oben hin nur sanft verjüngte. Aber der kreisrunde, einen halben Kilometer hohe, mehr als vier Kilometer breite Raum wirkte geradezu unermeßlich, denn hier gab es nichts, woran sich das Auge hätte festhalten können. Die einheitlich blauen Wände trugen noch mehr dazu bei, den Eindruck von Unendlichkeit zu vermitteln.
    Poole hatte dem Fluglehrer nicht geglaubt, als der prahlte: »Sie können jede Landschaft haben, die Sie wollen«, und sich deshalb vorgenommen, ihm eine geradezu unmögliche Aufgabe zu stellen. Doch bei diesem ersten Flug in schwindelnder Höhe von fünfzig Metern gab es keine visuellen Ablenkungen. Natürlich war es – die Höhe entsprach in der zehnmal größeren Erdschwerkraft immerhin fünf Metern – theoretisch möglich, sich das Genick zu brechen; praktisch waren jedoch nicht einmal kleinere Prellungen zu befürchten, denn über den gesamten Fußboden spannte sich ein Netz aus elastischen Seilen, das den Raum zu einem einzigen Trampolin machte. Hier könnte man sich, dachte Poole, auch ohne Flügel prächtig amüsieren.
    Mit kräftigen Schwüngen hob er vom Boden ab. Im Handumdrehen hatte er das Gefühl, hundert Meter hoch zu sein. Und er stieg immer noch weiter.
    »Langsam!« mahnte der Fluglehrer. »Ich komme nicht nach!«
    Poole ging in die Horizontale und versuchte eine langsame Rolle vorwärts. Er fühlte sich nicht nur körperlich leicht (kein Wunder bei einem Gewicht von weniger als zehn Kilogramm!), auch sein Kopf war wie ein Luftballon, so daß er sich fragte, ob man wohl die Sauerstoffkonzentration erhöht hatte.
    Es war ein großartiges Gefühl – ganz anders als die Schwerelosigkeit, bei der keinerlei physische Anstrengung erforderlich war. Am ehesten ließ es sich noch mit Sporttauchen vergleichen. Nur schade, daß es hier anstelle der bunten Korallenfische, die Poole so oft über die Riffe tropischer Meere begleitet hatten, keine Vögel gab.
    Der Fluglehrer ließ ihn verschiedene Manöver durchführen, Rollen, Loopings, Sturzflug, Schwebeflug. Endlich sagte er: »Mehr kann ich Ihnen nicht beibringen. Lassen Sie uns jetzt die Aussicht genießen.«
    Im ersten Moment hätte Poole fast die Kontrolle verloren – was vermutlich beabsichtigt war. Denn plötzlich sah er sich, ohne jede Vorwarnung, von schneebedeckten Bergen umgeben und flog, nur wenige Meter von messerscharfen Felskanten entfernt, durch einen schmalen Paß.
    Die Berge waren natürlich nicht echt, sondern so wenig greifbar wie Wolken. Er hätte sie ohne weiteres durchfliegen können. Trotzdem entfernte er sich von der Felswand (auf einem Sims befand sich ein Adlernest mit zwei Eiern, so echt und nahe, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren) und steuerte auf offeneres Gelände zu.
    Die Berge verschwanden; mit einem Schlag war es Nacht. Und dann kamen die Sterne – nicht nur ein paar jämmerliche tausend wie am Himmel der Erde, sondern Legionen ohne Zahl. Und nicht nur Sterne, sondern die Strudelwirbel fremder Galaxien und die wimmelnden Sternenschwärme ferner Kugelhaufen.
    Es war, als hätte ihn ein Zauberer auf eine fremde Welt versetzt, aber dieser Himmel konnte so niemals Wirklichkeit sein. Denn vor Pooles Augen zogen sich die Galaxien zusammen, Sterne verblaßten, explodierten, wurden in Globulen inmitten glühender Feuernebel geboren. Mit jeder Sekunde verging hier eine Million Jahre…
    Das überwältigende Schauspiel verschwand so schnell, wie es entstanden war. Er war wieder allein am leeren Himmel, allein bis auf seinen Fluglehrer, allein im leeren, blauen Zylinder des Vogelhauses.
    »Ich glaube, das genügt für den ersten Tag«, sagte der Fluglehrer, der ein paar Meter über ihm schwebte. »Was für eine Landschaft hätten Sie denn gern

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