Die letzte Odyssee
der vier Türme, die er jedoch praktisch alle ablehnen mußte.
Am schwersten fiel ihm das, wenn die Aufforderung direkt von dem Planeten kam, der sich in seiner ganzen Pracht unter seinem Fenster ausbreitete. »Natürlich«, sagte Professor Anderson, »könnten sie mit einem geeigneten Lebenserhaltungssystem einen kurzen Aufenthalt verkraften, aber ein Vergnügen wäre es sicher nicht. Und es steht zu befürchten, daß Ihr neuromuskuläres System noch mehr geschädigt würde. Es hat sich von Ihrem tausendjährigen Schlaf ohnehin nie so recht erholt.«
Indra Wallace, sein zweiter Schutzengel, schirmte ihn gegen unnötige Störungen ab und half ihm zu entscheiden, auf welche Anliegen er eingehen sollte – und wann eine höfliche Absage angebracht war. Die soziopolitische Struktur dieser Kultur war so unglaublich vielschichtig, daß er sie allein niemals durchschaut hätte. Er hatte jedoch bald heraus, daß es – obwohl theoretisch alle Klassenunterschiede abgeschafft waren – immer noch ein paar Tausend Super-Bürger gab. George Orwell hatte recht behalten; einige würden immer etwas gleicher sein als die anderen.
Hin und wieder hatte sich Poole, geprägt von den Verhältnissen im 21. Jahrhundert, besorgt gefragt, wer wohl für seinen Unterhalt aufkam – oder ob man ihm eines Tages eine gesalzene Hotelrechnung präsentieren würde. Aber Indra hatte ihn beruhigt: Er sei sozusagen ein unersetzliches Museumsstück, mit Alltagsproblemen brauche er sich nicht herumzuschlagen. Man würde ihm – in vernünftigen Grenzen – jeden Wunsch erfüllen. Poole fragte sich, wo diese Grenzen wohl lägen, konnte sich aber nicht vorstellen, daß er eines Tages tatsächlich versuchen würde, sie auszuloten.
Bei den wichtigsten Dingen im Leben hat stets der Zufall die Hand im Spiel. Poole hatte die Anlage für die Wandprojektionen auf stummen Suchlauf geschaltet, als ihn eins der Bilder plötzlich stutzen ließ.
»Suchlauf stop! Ton an!« rief er lauter als nötig.
Die Musik klang vertraut, aber er brauchte ein paar Minuten, um sie einordnen zu können; daß seine Wand sich mit geflügelten Menschen füllte, die einander elegant umkreisten, half ihm endlich auf die Sprünge. Tschaikowsky wäre über diese Aufführung von
Schwanensee
sehr erstaunt gewesen – mit Tänzern, die tatsächlich fliegen konnten …
Poole beobachtete die Szene minutenlang wie gebannt, bis er halbwegs überzeugt war, daß es sich um Realität und nicht um eine Simulation handelte: Das hatte sich schon zu seiner Zeit nicht mehr so genau auseinanderhalten lassen. Vermutlich wurde das Ballett in einer Umgebung mit niedriger Schwerkraft getanzt – nach einigen der Bilder zu schließen, mußte es ein riesengroßer Raum sein. Vielleicht lag er sogar hier, im Afrikaturm.
Das möchte ich probieren, beschloß Poole. Er hatte der Raumfahrtbehörde nie verziehen, daß sie ihm sein liebstes Hobby, Fallschirmformationsspringen, verboten hatte, obwohl er einsah, daß die Behörde nur darauf bedacht gewesen war, eine wertvolle Kapitalanlage vor Schaden zu bewahren. Die Ärzte hatten seinen Unfall beim Drachenfliegen damals mit großer Bestürzung aufgenommen; zum Glück waren seine jungen Knochen jedoch tadellos zusammengeheilt.
»Aber jetzt«, dachte er, »kann mich niemand mehr abhalten … höchstens Prof Anderson …«
Zu Pooles Erleichterung fand der Arzt die Idee jedoch ausgezeichnet. Außerdem erfuhr er, daß jeder Turm auf der Ein-Zehntel-g-Etage ein eigenes ›Vogelhaus‹ hatte.
Die Flügel, die er sich wenige Tage später anmessen ließ, sahen längst nicht so elegant aus wie die Schwingen der Tänzer in
Schwanensee.
Anstelle von Federn hatten sie nur eine elastische Membran, und als Poole die Griffe an den Stützrippen umfaßte, war ihm klar, daß er damit eher einer Fledermaus glich. »Dann mal los, Dracula!« rief er, doch sein Fluglehrer hatte offenbar noch nie von Vampiren gehört und reagierte nicht.
In den ersten Stunden hing er noch an leichten Sicherheitsgurten, so daß er nicht davonschweben konnte, während er die Grundschwünge übte und vor allem lernte, die Flügel zu kontrollieren und das Gleichgewicht zu halten. Wie so vieles andere im Leben war auch das Fliegen nicht so einfach, wie es aussah.
Er fand das Gurtzeug ziemlich albern – was konnte bei einem Zehntel Schwerkraft schon groß passieren? – und war froh, daß er es nur ein paar Stunden zu tragen brauchte; das Astronautentraining kam ihm natürlich zugute. Der
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