Die letzte Odyssee
hatte – zu gern einmal besucht, aber nie die Zeit dazu gefunden. Und das zweite Exemplar in der Olduvai-Schlucht war infolge der Erdschwerkraft für ihn unerreichbar. Aber er hatte die beiden so oft auf Bildern gesehen, daß sie ihm vertrauter waren als die sprichwörtliche Westentasche (wobei sich ihm immer wieder die Frage aufdrängte, wieviele Leute ihre Westentasche im Zweifelsfall wohl tatsächlich erkennen würden). Bis auf ihre ungeheure Größe unterschied sich die Große Mauer in nichts von TMA-1 und TMA-0 – oder von dem ›Großen Bruder‹, dem die
Leonow
im Orbit um Jupiter begegnet war.
Wenn man einigen Theorien glaubte, die womöglich verrückt genug waren, um wahr zu sein, gab es nur einen archetypischen Monolithen, und alle anderen – ob groß oder klein – waren lediglich Projektionen oder Abbilder davon. Daran mußte Poole unwillkürlich denken, als sich die makellose, vollkommen glatte, ebenholzschwarze Fassade der Großen Mauer vor ihm auftürmte. Nach so vielen Jahrhunderten in diesem mehr als rauhen Klima müßte sie doch zumindest den einen oder anderen Schmutzflecken abbekommen haben! Aber sie war so blitzblank, als habe eben erst ein Heer von Fensterputzern jeden Zentimeter frisch gewienert.
Bisher hatte noch jeder Besucher von TMA-0 und TMA-1 den unwiderstehlichen Drang verspürt, diese scheinbar unberührte Oberfläche anzukratzen, aber gelungen war es noch keinem. Finger, Diamantbohrer oder Laserklingen – alles glitt von den Monolithen ab, als wären sie mit einem undurchdringlichen Schutzfilm überzogen. Oder – auch das eine populäre Theorie – als stünden sie nicht ganz in diesem Universum, sondern seien durch einen Millimeterbruchteil davon getrennt und damit unerreichbar.
Poole umkreiste die Große Mauer in aller Ruhe einmal, ohne daß sie irgendwie Notiz von ihm genommen hätte. Dann flog er das Shuttle – immer noch manuell, um sich vor weiteren ›Rettungsversuchen‹ der Flugsicherungskontrolle Ganymed zu schützen – bis an den Rand von Tsienville und schwebte auf der Suche nach einem Landeplatz reglos über dem Boden.
Der Blick durch das kleine Panoramafenster der
Falcon
war ihm vollkommen vertraut; er hatte die ganymedischen Aufzeichnungen oft genug studiert, ohne sich träumen zu lassen, daß er die Szene auch einmal in Wirklichkeit sehen würde. Von Stadtplanung hatten die Europaner offenbar noch nichts gehört; auf einem Quadratkilometer Fläche waren scheinbar wahllos Hunderte von halbkugelförmigen Gebäuden verteilt. Manche waren so klein, daß sogar menschliche Kinder nur mit Mühe darin Platz gefunden hätten, andere boten genügend Wohnraum für eine Großfamilie, doch keines war höher als fünf Meter.
Und alle schimmerten sie gespenstisch im zweifachen Tageslicht, denn sie bestanden ausnahmslos aus ein- und demselben Material. Die Eskimos auf der Erde hatten, von ihrer kalten, werkstoffarmen Umgebung vor die gleiche Aufgabe gestellt, die gleiche Lösung gefunden; auch Tsienvilles Iglus waren aus Eis gebaut.
Anstelle von Straßen gab es Kanäle – sehr viel zweckmäßiger für Lebewesen, die das Amphibienstadium noch nicht ganz hinter sich gelassen hatten. Die Europaner kehrten offenbar nach wie vor zum Schlafen und auch, so glaubte man wenigstens, ohne es jedoch beweisen zu können, zur Nahrungsaufnahme und zur Paarung ins Wasser zurück.
Tsienville wurde bisweilen auch als ›Venedig aus Eis‹ bezeichnet, und Poole mußte zugeben, daß die Beschreibung paßte. Nur waren nirgendwo Venezianer zu sehen; die Stadt schien seit Jahren verlassen.
Noch etwas war rätselhaft: Obwohl Luzifer fünfzigmal heller schien als die ferne Sonne und immer am Himmel stand, hatten die Europaner ihren uralten Tag- und Nachtrhythmus beibehalten. Bei Sonnenuntergang kehrten sie ins Meer zurück, und bei Sonnenaufgang tauchten sie wieder auf – obwohl sich der Helligkeitspegel nur um wenige Prozent verändert hatte. Vielleicht gab es auf der Erde, wo der matte Mond das Verhalten vieler Lebewesen ebenso stark beeinflußte wie die sehr viel hellere Sonne, eine Parallele dazu.
In einer Stunde, wenn die Sonne aufging, würden Tsienvilles Bewohner an Land kommen und – für menschliche Verhältnisse sehr geruhsam – ihr Tagewerk beginnen. Die Biochemie der Europs basierte auf Schwefel und war nicht so energieintensiv wie die Sauerstoffverbrennung, die dem größten Teil der terrestrischen Lebewesen einheizte. Selbst ein Faultier lief schneller als ein Europ, wie also
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