Die letzte Odyssee
Boden zu kriechen. Das Wesen kam bis auf fünf Meter an das Licht heran, dann begann es, sich auszubreiten, bis es einen vollständigen Kreis um mich gebildet hatte. Vermutlich war damit seine Toleranzgrenze erreicht – der Punkt, an dem sich die Photoanziehung in Abstoßung verkehrte.
Danach geschah mehrere Minuten lang nichts. Ich fragte mich, ob es endlich tot war – steifgefroren.
Dann begannen sich auf vielen Ästen große Knospen zu bilden. Es war, als sähe man in einem Zeitrafferfilm Blumen aufblühen. Ich dachte tatsächlich, es seien Blumen – jede etwa so groß wie der Kopf eines Menschen.
Zarte Membranen in wundervollen Farben entfalteten sich. Selbst jetzt schoß mir noch durch den Sinn, daß niemand – kein
lebendes Wesen,
diese Farben je gesehen haben konnte, bevor wir mit unseren Lichtern – unseren tödlichen Lichtern – auf diese Welt kamen. Ranken, Staubfäden, die sanft hin- und herschwankten … Ich ging hinüber zu der lebenden Wand, die mich umgab, um mir genauer anzusehen, was da passierte. Angst hatte ich nicht vor dem Geschöpf, weder zu diesem, noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Ich war überzeugt davon, daß es nicht bösartig war – falls es überhaupt so etwas wie ein Bewußtsein besaß.
Es gab Dutzende von diesen großen Blüten in verschiedenen Stadien der Entfaltung. Jetzt erinnerten sie mich an Schmetterlinge, die gerade aus der Puppe schlüpfen – mit zerknitterten Flügeln und noch geschwächt – ich kam der Wahrheit immer näher.
Aber sie erfroren, starben so schnell, wie sie entstanden waren, und fielen, eine nach der anderen, von den Mutterknospen ab. Ein paarmal warfen sie sich noch herum wie Fische auf dem Trockenen – und dabei kam mir endlich die Erleuchtung: Die Membranen waren keine Blütenblätter – sondern Flossen oder etwas Entsprechendes, und dies war das freischwimmende Larvenstadium des Geschöpfs. Wahrscheinlich verbringt es den größten Teil seines Daseins fest verwurzelt auf dem Meeresgrund und schickt nur irgendwann seine bewegliche Nachkommenschaft auf die Suche nach neuen Lebensräumen aus. Wie die Korallen in den Ozeanen der Erde.
Ich kniete nieder, um eines der kleinen Geschöpfe genauer zu untersuchen. Die herrlichen Farben verblaßten jetzt zu einem stumpfen Braun. Einige der Blütenblatt-Flossen waren abgebrochen und gefroren zu spröden, harten Scherben. Aber das Wesen bewegte sich immer noch ein wenig, und als ich näherkam, versuchte es, mir auszuweichen. Ich fragte mich, wie es mich überhaupt wahrnehmen konnte.
Dann fiel mir auf, daß die
Staubfäden –
wie ich sie genannt hatte – an den Spitzen leuchtendblaue Punkte trugen. Sie sahen aus wie winzige Sternsaphire – oder wie die blauen Augen auf der Schale einer Kammuschel – lichtempfindlich, aber nicht fähig, Bilder zu formen. Vor meinen Augen verblaßte das lebhafte Blau, die Saphire wurden zu matten, gewöhnlichen Steinen …
Dr. Floyd – oder wer mich sonst hört – ich habe nicht mehr viel Zeit; soeben hat mein Lebenserhaltungssystem erstmals Alarm gegeben. Aber ich bin fast fertig.
Ich wußte jetzt, was ich zu tun hatte. Das Kabel des Tausendwattscheinwerfers hing beinahe bis auf den Boden. Ich zog ein paarmal daran, es gab einen Funkenregen, und das Licht erlosch.
Vielleicht war es schon zu spät gewesen. Minutenlang geschah gar nichts. Da ging ich auf den Ring aus verschlungenen Zweigen zu, der mich einschloß, und trat mit dem Fuß dagegen.
Das Geschöpf begann sich langsam zu entflechten und zog sich zum Kanal zurück. Ich folgte ihm und spornte es mit weiteren Fußtritten an, wenn es langsamer wurde. Bei jedem Schritt knirschten die gefrorenen Bruchstücke unter meinen Stiefeln … Je näher es dem Kanal kam, desto mehr Kraft und Energie schien es zu gewinnen, als wisse es, daß es in seinen natürlichen Lebensraum zurückkehrte. Vielleicht würde es überleben und neue Knospen treiben.
Dann tauchte es unter. Nur ein paar letzte, tote Larven blieben auf dem für sie fremden Land zurück. Das offene Wasser sprudelte ein paar Minuten lang, bis sich eine Eiskruste gebildet hatte und es vor dem Vakuum schützte. Ich kehrte zum Schiff zurück, um nachzusehen, ob es etwas zu bergen gab – aber darüber möchte ich nicht sprechen.
Zwei Wünsche habe ich noch, Doktor. Wenn die Taxonomen dieses Geschöpf klassifizieren, wäre es schön, wenn sie es nach mir benennen würden.
Und – wenn das nächste Schiff nach Hause fliegt – bitten Sie es, unsere
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