Die letzte Odyssee
deshalb ließe sich ein Mensch für nur etwa hundert Dollar in den Orbit bringen. Der Hin- und Rückflug wäre schon für zehn Dollar zu haben, da bei der Fahrt nach unten der größte Teil der Energie zurückgewonnen werden könnte! (Natürlich würden die Verpflegung und die Bordfilme den Preis des Tickets wieder in die Höhe treiben. Sagen wir also, tausend Dollar für einen Flug zum GEO und wieder zurück?)
Von der Theorie her ist alles klar, aber wie steht es mit einem Material, das nicht nur genügend Zugfestigkeit besitzt, um aus 36000 km Höhe bis zum Äquator zu hängen, sondern auch noch über Reserven für die Beförderung von Nutzlasten verfügt? Als Jurij seine Erfindung vorstellte, gab es nur einen Werkstoff, der diesen doch sehr hohen Anforderungen entsprach, und das war kristalliner Kohlenstoff, besser bekannt unter der Bezeichnung Diamant. Leider würden die benötigten Mengen im Megatonnenbereich liegen und wären auf dem freien Markt nicht so ohne weiteres erhältlich, auch wenn ich in
2061: Odyssee III
die Hoffnung geweckt habe, sie könnten im Kern des Jupiter zu finden sein. In
The Fountains of Paradise
habe ich eine leichter zugängliche Quelle beschrieben – Orbitalfabriken, in denen man die Diamanten bei Schwerelosigkeit produzieren könnte.
Den ersten ›kleinen Schritt‹ in Richtung Weltraumfahrstuhl unternahm im August 1992 das Shuttle
Atlantis,
als es im Rahmen eines Experiments daranging, ein Stück Frachtgut an einem einundzwanzig Kilometer langen Seil auszubringen und wieder einzuholen. Bedauerlicherweise blockierte der Mechanismus zum Abwickeln des Seils bereits nach wenigen hundert Metern.
Trotzdem fühlte ich mich sehr geschmeichelt, als die
Atlantis
-Besatzung bei ihrer ersten Pressekonferenz aus dem Orbit
The Fountains of Paradise
vor die Kamera hielt und Wissenschaftsastronaut Jeffrey Hoffman mir nach der Rückkehr zur Erde das signierte Exemplar zuschickte.
Das zweite Experiment dieser Art im Februar 1996 war schon von mehr Erfolg gekrönt: das Frachtstück konnte tatsächlich auf volle Länge abgelassen werden, doch beim Wiedereinholen wurde das Seil infolge eines Kurzschlusses, ausgelöst durch eine Schadstelle in der Isolierung, durchtrennt. (Das mag sogar ein Glück gewesen sein. Ich mußte unwillkürlich an jene Zeitgenossen von Ben Franklin denken, die ums Leben kamen, als sie sein ebenso berühmtes wie hochgefährliches Experiment wiederholen und bei Gewitter einen Drachen steigen lassen wollten.) Abgesehen von möglichen Gefahren besteht zwischen dem Ablassen von Frachtstücken aus einem Shuttle und dem Angeln eine gewisse Ähnlichkeit: beides ist nicht so einfach, wie es aussieht. Doch irgendwann wird auch der ›große Sprung‹ glücken – bis hinunter zum Äquator.
Inzwischen hat die Entdeckung einer dritten Form des Kohlenstoffs, der Buckminster-Fullerene (C60), die Realisierung des Weltraumfahrstuhls in greifbarere Nähe gerückt. 1990 konnte eine Gruppe von Chemikern an der Rice University in Houston C60 als Röhrenmolekül erzeugen – mit einer Zugfestigkeit, die die von Diamant weit übertrifft. Der Leiter der Gruppe, Dr. Smalley, ging sogar so weit zu behaupten, es handle sich um den stabilsten Werkstoff aller Zeiten – und er fügte hinzu, damit würde der Bau eines Weltraumfahrstuhls möglich. (Wie ich zu meiner Freude nach Redaktionsschluß erfuhr, wurde Dr. Smalley für sein Werk neben anderen mit dem Nobelpreis 1996 für Chemie geehrt.)
Und jetzt ein wirklich erstaunlicher Zufall – er ist so unheimlich, daß ich mich wieder einmal frage, wer da oben wohl die Fäden zieht. Buckminster Fuller starb 1983, er hat also die Entdeckung der ›Buckyballs‹ und ›Buckytubes‹, die ihm posthum zu so großem Ruhm verhalfen, nicht mehr erlebt. Ich hatte das Vergnügen, ihn und seine Frau Anne auf einer seiner letzten Weltreisen über Sri Lanka herumzufliegen und ihnen einige der Schauplätze aus
The Fountains of Paradise
zu zeigen. Kurz darauf zeichnete ich den Roman auf einer Zwölf-Zoll-Langspielplatte (Caedmon TC 1606 – wissen Sie noch?) auf, und Bucky war so freundlich, den Klappentext zu schreiben. Vielleicht hat mich die überraschende Enthüllung am Ende des Texts zu meiner Version von Star City inspiriert:
Im Jahre 1951 entwarf ich eine freischwebende Ringbrücke, die in großer Entfernung um den Erdäquator herumzubauen wäre. Innerhalb dieser kreisförmigen ›Halobrücke‹ würde die Erde ihre Drehung beibehalten, während die
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