Die letzte Odyssee
Tröstliches zu vermelden.
»Wir wissen nicht, was vorgeht – aber Luzifer scheint nach wie vor normal! Ich wiederhole – Luzifer scheint nach wie vor! Wir haben soeben eine Mitteilung vom Interorbital-Shuttle
Alcyone
erhalten, das vor einer halben Stunde nach Callisto gestartet ist. Von dort sieht der Himmel so aus – «
Poole stürmte ins Zimmer zurück und kam gerade noch zurecht, um Luzifer in alter Schönheit vom Bildschirm strahlen zu sehen.
»Bisher wissen wir nur«, fuhr der Bürgermeister atemlos fort, »daß Luzifer zeitweilig verfinstert wird – wir werden jetzt näher heranfahren und uns die Sache genauer ansehen … Observatorium Callisto, bitte kommen …«
Woher will er wissen, daß es ›zeitweilig‹ ist? dachte Poole, während er darauf wartete, daß ein neues Bild auf dem Monitor erschien.
Luzifer verschwand, ein Sternenfeld trat an seine Stelle. Die Stimme des Bürgermeisters wurde ausgeblendet und durch eine andere ersetzt:
»– Zwei-Meter-Teleskop, aber soviel sieht man fast mit jedem Instrument. Die Scheibe ist aus tiefschwarzem Material, ihr Durchmesser beträgt gut zehntausend Kilometer, und sie ist so dünn, daß man von Dicke nicht sprechen kann. Sie wurde – offenbar bewußt – genau so plaziert, daß Ganymed kein Licht mehr erhält.
Wir gehen jetzt noch näher heran, vielleicht können wir Einzelheiten erkennen, obwohl ich das eher bezweifeln möchte …«
Von Callisto aus erschien die Scheibe zu einem doppelt so langen wie breiten Oval verkürzt. Es wuchs, bis es den Schirm zur Gänze ausfüllte; dann war nicht mehr festzustellen, ob das Bild noch näher herangezoomt wurde, denn die Oberfläche wies keinerlei Gliederung auf.
»Genau wie ich dachte – es gibt nichts zu sehen. Schwenken wir hinüber an den Rand …«
Auch diesmal war keine Bewegung wahrzunehmen, bis plötzlich hinter dem gekrümmten Rand der weltgroßen Scheibe ein Sternenfeld sichtbar wurde. Es war, als schaue man über den Horizont eines vollkommen glatten Planeten ohne Atmosphäre.
Nein, nicht vollkommen glatt …
»Das ist interessant«, kommentierte der Astronom. Er war bisher bemerkenswert sachlich geblieben, als handle es sich um ein ganz alltägliches Phänomen. »Der Rand wirkt gezackt – aber die Zacken sind sehr einheitlich – wie bei einem Sägeblatt …«
Eine Kreissäge, flüsterte Poole. Will sie uns etwa in Scheiben schneiden? Nun mach dich bloß nicht lächerlich … »Näher kommen wir nicht heran, sonst wird das Bild durch die Lichtbeugung verzerrt – wir werden es anschließend aufbereiten, dann kommen die Einzelheiten sehr viel besser heraus.«
Die Vergrößerung war jetzt so stark, daß von der Kreisform der Scheibe nichts mehr zu erkennen war. Quer über den Monitor zog sich ein schwarzes Band, dessen Rand sich aus Dreiecken von solcher Regelmäßigkeit zusammensetzte, daß Poole sich von dem ominösen Vergleich mit einem Sägeblatt nicht lösen konnte. Zugleich rumorte etwas in seinem Unterbewußtsein …
Zusammen mit ganz Ganymed beobachtete er, wie die unendlich weit entfernten Sterne durch diese geometrisch perfekten Täler zogen. Als er endlich die Lösung des Rätsels fand, waren ihm wahrscheinlich schon viele andere zuvorgekommen.
Wenn man aus rechteckigen Blöcken – ob mit den Proportionen 1:4:9 oder nicht – einen Kreis bildet, kann der Rand nicht glatt sein. Natürlich wird man sich, je kleiner die Blöcke werden, einer perfekten Kreisform immer weiter annähern. Aber wozu der Aufwand, wenn man nur eine Wand bauen will, die groß genug ist, um eine Sonne zu verfinstern?
Der Bürgermeister hatte recht; es war tatsächlich nur eine zeitweilige Eklipse. Doch sie endete ganz anders als eine Sonnenfinsternis.
Das Licht brach zuerst genau in der Mitte durch, nicht wie üblich am Rand in Form einer Perlenkette. Von einem gleißend hellen Punkt strahlten fransige Linien aus – und jetzt wurde bei stärkster Vergrößerung auch erkennbar, wie die Scheibe gegliedert war. Sie bestand tatsächlich aus Millionen von identischen Rechtecken, die möglicherweise alle die Größe der Großen Mauer auf Europa hatten. Und nun fielen sie auseinander – als würde ein riesiges Puzzlespiel zerlegt.
Nach kurzer Unterbrechung hatte Ganymed sein ewiges Tageslicht wieder. Die Scheibe löste sich zusehends auf, Luzifers Strahlen drangen durch immer größere Lücken. Nun zersetzten sich auch die einzelnen Komponenten, als könnten sie, ohne sich gegenseitig zu stützen, nicht
Weitere Kostenlose Bücher