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Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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beobachtete.
    »Neuschwanstein ist einfach nur Kitsch«, murmelte Amadeo. »Das hier dagegen...« Er versuchte das Gebäude unvoreingenommen zu betrachten, mit dem analytischen Blick des Kunsthistorikers, der er einmal gewesen war — in einem lange vergangenen Leben, wie es ihm allmählich vorkam —, aber es wollte ihm nicht gelingen. Was er sah, suchte sich einer Einordnung zu entziehen: ein Palais des Rokoko, vor dem der hohe Baumbewuchs respektvoll zurückwich. Das musste die ursprüngliche Anlage gewesen sein, sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den Palastbauten in der Nachbarschaft, war aber größer. Doch in was Mafalda die einstige Adelsresidenz verwandelt hatte — war das nun ein Traum oder ein Alptraum? Auf jeden Fall war es eine bizarre, willkürliche Ansammlung architektonischer Elemente quer durch die Jahrhunderte, von Türmchen, Dächern, Zinnen, Bogengängen und plötzlich aufsteigenden Kaminen irgendwo im stilistischen Niemandsland zwischen Walt Disney und Friedensreich Hundertwasser. Unfassbar — in jeder Beziehung. Ein Anblick wie aus einer anderen Welt.
    »Wer hat sich das ausgedacht?«, keuchte Amadeo. »Franz Kafka?«
    »Die Baupläne stammen von Madame Istvana, Mafaldas... was auch immer. Gibt's hier eigentlich keine Parkplätze?«
    »Ich denke, wir werden erwartet.« Amadeo blickte auf das verschlossene Tor. »Empfängt man so Gäste?«
    »Sie will keine Autos auf dem Gelände«, erklärte Rebecca, »überhaupt keine Elektrizität. Angeblich wegen der Schwingungen.«
    » Schwingungen ?«
    »Ah, da vorne kann man parken.« Zielsicher fuhr sie auf einen fast unsichtbaren Schatten am Rande des Waldes zu, und tatsächlich befand sich dort, verborgen zwischen den Bäumen, eine halb überwucherte Lichtung. Reifenspuren im weichen Boden bewiesen, dass man sie hin und wieder als Parkplatz nutzte. Diese Frau besaß die Augen eines Adlers.
    »Schwingungen«, bestätigte Rebecca, als sie ausstiegen. »Vergiss die Kamera nicht. Hast du dich nicht gewundert, warum ich auf einer Spiegelreflex bestanden habe? Keine Elektrizität. Madame Istvana kann dann nicht arbeiten, das trübt ihre Aura oder etwas in der Art.«
    »Wenn ich mir das da ansehe«, Amadeo wies auf die Villa Tepesz, »dann ist da einiges getrübt.« Staunend trat er an das Gatter. »Verschlossen, und kein Mensch zu sehen. Du bist dir sicher, dass wir einen Termin haben?«
    »Um Viertel vor sechs«, entgegnete Rebecca. »In genau«, sie sah auf die Uhr, »zehn Sekunden.« Die Auffahrt war noch immer menschenleer. »Fünf«, zählte sie, »vier, drei, zwei, eins.«
    Ein vernehmliches Klicken. Knarrend schwang das Tor auf. Amadeo zuckte zurück.
    »Pünktlich auf die Sekunde.« Rebecca nickte anerkennend.
    Unruhig spähte Amadeo in das Laub.
    »Suchst du was Bestimmtes?«, fragte die junge Frau.
    »Die Kamera«, murmelte er. »Sie müssen uns gesehen haben.«
    Rebecca hob die Schultern. »Keine Elektrizität, keine Kamera.«
    »Aber wie...« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Du willst mir doch nicht sagen, du glaubst diesen Hokuspokus!«
    »Ich glaube, was ich sehe«, sagte Rebecca schlicht. »Und ich sehe hier keine Kamera. Hast du dir das Tor mal genau angeschaut?«
    »Habe ich«, bestätigte Amadeo, »eine wundervolle Arbeit. Vermutlich noch das Original aus dem Rokoko.«
    »Gut möglich«, stimmte Rebecca zu. Neugierig schritt sie hindurch und betrat Mafaldas Anwesen. »Gab's im Rokoko eigentlich schon elektrischen Strom?«
    »Nun«, begann Amadeo. »Benjamin Franklin hat etwa um diese Zeit...« Er brach ab und starrte auf die Torflügel in den schweren schmiedeeisernen Angeln, die genau so aussahen, wie man sich schwere schmiedeeiserne Angeln vorstellt: keine Spur von einem verborgenen elektronischen Mechanismus.
    »Wie...« Er trat nun ebenfalls auf die Auffahrt und betrachtete die verputzten, aufgemauerten Torwangen von der Innenseite. »Wie hat sie das nur...«
    Ein zweites verhaltenes Knarren, und die Torflügel bewegten sich von neuem Zentimeter für Zentimeter. Amadeo starrte sie an. Da war kein Mechanismus.
    Er stand da wie gelähmt. Die Flügel hatten sich beinahe geschlossen. Amadeo sah zwischen dem immer schmaler werdenden Fluchtweg und der verführerisch schönen Frau hin und her. Er konnte sich nicht entscheiden.
    Aber das war auch nicht mehr notwendig. Mit einem metallischen Donnern schlugen die Torflügel ins Schloss.
LIX
    Quer über den Weg, der vom Tor in die Tiefe des Anwesens führte, streckten die Blutbuchen ihre

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