Die letzte Offenbarung
andere.«
»Die machen das öfter?« Verblüfft sah Rebecca ihn an.
Amadeo ließ sich wieder in seinen Sitz sinken. »Hin und wieder. Das letzte Mal neunzehnhundertachtundvierzig. Damals stürzte sich der tschechoslowakische Außenminister im Schlafanzug aus seinem Bürofenster. Selbstmord, hieß es, aber zwei Wochen vorher hatten die Kommunisten geputscht, und seine kritische Haltung zum neuen Regime war hinlänglich bekannt.«
»So was haben sie nicht aufgeklärt?«
Amadeo schüttelte den Kopf. »Das war damals undenkbar, aber die früheren Fensterstürze waren entscheidender, denn sie waren Auslöser und haben die Stadt zu dem gemacht, was sie heute ist.«
Rebecca hob die Augenbrauen. »Für jemanden, der nur mal kurz für einen Tagesausflug hier war, kennst du dich aber gut aus in der Prager Geschichte.«
»Ich bin nun mal Kunsthistoriker«, er hob die Schultern, »und Prag ist einzigartig. Es hat mich schon immer fasziniert, nur halt mehr aus der Ferne. Ich glaube, es gibt kaum eine tragischere Stadt in der Geschichte.«
»Tragisch? Ist Rom nicht noch viel häufiger geplündert worden als Prag?«, fragte sie erstaunt.
»Sicherlich«, gab er zu und ließ den Blick ebenfalls über die Moldaumetropole gleiten. In ihrer Majestät breitete sie sich zwischen die Hänge zu beiden Seiten des Flusses, noch immer halb verborgen hinter dem Bergrücken des Petřín mit Prags neuestem Wahrzeichen, dem Aussichtsturm. »Aber Rom ist auch viel älter, und Rom hatte seine große Zeit — eine sehr lange, sehr große Zeit. Letztlich dauert sie ja sogar noch an. Rom ist die Hauptstadt Italiens, und der Vatikan die Hauptstadt der katholischen Christenheit — man kann über die Jungs sagen, was man will, aber eindrucksvoll sind sie bis heute.«
»Ist das hier etwa nicht eindrucksvoll?«
»Schon«, Amadeo schüttelte den Kopf, »aber der Glanz und die dunklen Seiten stehen nicht im Verhältnis: Karl der Vierte, der den böhmischen Thron von seiner Mutter geerbt hatte, beherrschte von Prag aus das Heilige Römische Reich. Hier gründete er eine Universität, die in kürzester Zeit zu den führenden in Europa gehörte, aber dann...«
»Dann?«
»Dann ging es Schlag auf Schlag: Kaum war Karl tot, machte die Universität auf ganz andere Weise von sich reden. Johann Hus, ein Prager Professor, wagte es, die Allmacht des Papstes anzuzweifeln. Das war unerhört damals. Kein Wunder, dass die Kirche Zeter und Mordio schrie und ihn vor das Konzil nach Konstanz lud, um sich für seine Thesen zu verantworten. Dazu hatte man ihm freies Geleit zugesichert, aber dem Vatikan war damals genauso wenig zu trauen wie heute. Hus starb als Ketzer auf dem Scheiterhaufen.«
Rebecca blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Ein finsteres Ende.«
»Kein Ende«, Amadeo hob die rechte Hand, »sondern ein Anfang.«
Das Navigationssystem wies sie an, die Einfallstraße zu verlassen und in den Strahowsky-Tunnel einzubiegen. Er war gut beleuchtet und Gott sei Dank nicht allzu lang, trotzdem überkam Amadeo sofort ein Gefühl der Beklemmung. Er versuchte die Hände ruhig zu halten, doch es wollte ihm nicht gelingen.
»Was denkst du?«, bemerkte Rebecca mit einem Seitenblick. »Solltest du da nicht mal was tun? Stell dir vor, wir kämen in einen Stau und müssten hier unten ein, zwei Stunden aushalten.«
»Das will ich mir gar nicht erst vorstellen!«, keuchte er.
Sie fuhr sich durchs Haar. »Also, diese Verbrennung war ein Anfang?«
Er nickte, froh, an etwas anderes denken zu können. »Hus war ein beliebter Mann zu Hause in Prag«, erklärte er weiter. »Als sich die Nachricht von seiner Ermordung verbreitete, drangen seine Anhänger in das Rathaus der Prager Neustadt ein, stürzten sich auf die katholischen Ratsherren und warfen sie aus dem Fenster: Das war der erste Prager Fenstersturz. Es folgten grauenhafte Gemetzel. Kreuzfahrerheere drangen bis nach Prag vor, ohne die Stadt vollständig unter ihre Kontrolle zu bekommen, während einheimische Böhmen gegen die deutschen Anhänger des Kaisers kämpften. Alles sehr verzwickt.«
Rebecca folgte den Anweisungen des Navigationssystems und ordnete sich an einer Ampel links ein. »Böhmen gegen Deutsche?«, fragte sie. »Ich denke, es ging um den Glauben?«
»Glaube«, Amadeo hob die Schultern, »oder Macht. Lässt sich das trennen? Immer wird die andersgläubige Partei unterdrückt, und das alles im Namen des Glaubens. Jahrhundertelang hier in Prag.«
»Alles kleine Bracciolinis«, murmelte
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