Die letzte Offenbarung
Augenbrauenpiercing! — gab ihr etwas Verwegenes.
Nicht, dass das nötig gewesen wäre, schon ihr Fahrstil war verwegen genug, als sie den nachtschwarzen Toyota auf die Autobahn in Richtung Konstanz/Bodensee/St. Gallen brachte.
Und er hatte geglaubt, er hätte den aufregendsten Teil der Reise hinter sich.
An der Abfertigung in Zürich hatte es keine Probleme gegeben, trotzdem war Amadeo auf der Hut gewesen. Wenn sie aus irgendeinem Grunde wussten, wohin er unterwegs war... Amadeo hatte ein Pokerface aufgesetzt und war möglichst unbeteiligt durch die Menge geschritten, jeden Augenblick auf das Schlimmste gefasst. Dann hatte plötzlich Rebecca vor ihm gestanden, ein Schild mit der Aufschrift »Signor FANELLI« in der Hand. Eine keltische Kriegerkönigin — und jetzt lenkte sie ihren Streitwagen, als ginge es geradewegs zur Schlacht.
»Sind Sie schon einmal in Rom Auto gefahren?«, fragte er vorsichtig. »Ich glaube, dort kämen Sie gut klar — wenn die Straßen einmal leer sind.«
»Ja?«, fragte sie. Mit der Lichthupe gab sie einem Mercedes Diesel Zeichen, die linke Spur zu räumen. »Leider nein. Was macht so was auf der Straße?«
Die grünen Augen warfen dem Mercedesfahrer einen bösen Blick zu.
»Ich glaube, er will einfach nur leben«, murmelte Amadeo.
»Kann er ja. Auf seiner Spur.«
»Sie sind Schweizerin?«, fragte er. Vielleicht brachte ein Gespräch sie dazu, die Geschwindigkeit ein wenig zu drosseln. Auf hundertachtzig vielleicht. Er war den Männern entkommen, die Niccolosi getötet hatten, und der polizia obendrein. Es wäre wirklich sehr ärgerlich... Gab es auf Schweizer Autobahnen keine Geschwindigkeitsbegrenzung?
»Mein Vater ist Deutscher, meine Mutter Irin.«
»Also auf den Spuren des heiligen Gallus«, nickte er. Der heilige Gallus galt als Begründer des Klosters St. Gallen im Zuge der irischen Mission des Frühmittelalters. Amadeo wusste das seit anderthalb Stunden — er hatte es auf dem Flug gelesen und hielt es für eine gute Gelegenheit, sein Wissen anzubringen.
Unvermittelt trat Rebecca die Bremse durch, und Amadeos Sitzgurt spannte sich. Er unterdrückte ein Keuchen.
»Auf Jobsuche«, erwiderte sie unbeeindruckt und pustete eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Ein Blitzer«, fügte sie an und deutete auf den Straßenrand. »Alle paar Kilometer steht einer.«
Schon wurde Amadeo wieder in den Sitz gedrückt. Rebecca Steinmann zog an einem Wagen vorbei, dessen Modell er nicht erkannte — dazu ging es zu schnell. Sie überholte ihn rechts. »Finden Sie in Irland mal was Vernünftiges.«
»Zum Beispiel?« Seine rechte Hand umklammerte den Türgriff.
»Museumspädagogik«, erwiderte sie knapp. Die Autobahn vor ihnen war jetzt frei bis zur nächsten Kurve.
»Da sollte es doch eine Menge geben.«
»Sicher.« Zitternd kletterte das Tachometer über die 220er-Marke. »Vor allem eine Menge Bewerber. Gleich kommt meine Lieblingsecke, da kann man etwas Gas geben.«
Was für eine Frau!
XXVIII
»Einige unserer schönsten Handschriften werden regelmäßig hier gezeigt.« Rebecca wies auf die Vitrinen aus dunklem Holz, die in der Mitte des Bibliothekssaals aufgestellt waren. Besonders viel war nicht von ihnen zu erkennen. Eine Schulklasse samt Lehrer lauschte den Erklärungen, die eine Frau mittleren Alters im einheimischen Dialekt gab. Das mussten Schweizer Schüler sein, eine fünfte Klasse, schätzte Amadeo.
Allerdings achtete er weder auf die Vitrinen noch auf die Schüler. Dieser Saal... so etwas hatte er noch nicht gesehen. Der elektronische Text hatte erwähnt, einige der ältesten Manuskripte seien bis heute in den Räumlichkeiten aus der Barockzeit untergebracht, doch damit hatte er nicht gerechnet. Diese Bibliothek war vielleicht nicht die größte, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte, aber es war mit Sicherheit die schönste. Wenn Bibliotheken Tempel des Wissens waren, dann war dies ihr Parthenon.
Er bekam den Mund nicht wieder zu. Hohe Schränke mit Sekreta, eine Galerie, die in zwei Metern Höhe rings um den Raum führte und dort oben neue und immer neue Regale mit Kostbarkeiten. Die Decke war mit prachtvollen barocken Malereien geschmückt.
»Die vier ökumenischen Konzilien«, bemerkte Rebecca, ohne selbst hinzusehen. »Nicäa, Konstantinopel, und so weiter.«
Amadeo legte den Kopf in den Nacken, bis er in etwas Halbhohes, Weiches stieß.
»Beat, du Goof! Pass doch auf!« Der Lehrer packte den Jungen an der Hand und zog ihn mit. »Wir müssen
Weitere Kostenlose Bücher