Die letzte Offenbarung
dort zurückgeblieben. Wem gehörten also die ausgetretenen Turnschuhe, die aus der zweiten Kabine ragten? Unter Grauen trat Amadeo näher.
Er kannte den toten jungen Mann nicht. Seine Hose war heruntergelassen, doch sein Oberkörper war ebenfalls nackt und zudem übersät mit Wunden und blauen Flecken. Der Fremde trug auffällige Ringe in den Ohren und Piercings in den Brustwarzen. Kein junger Mann. Fast noch ein Junge.
»Ein Strichjunge«, flüsterte Amadeo. Er taumelte zurück und starrte auf den toten Niccolosi. »Du«, er schluckte, »Aufreißer«, murmelte er. »Nicht ganz.«
Das Sirenengeheul war lauter geworden. Gleich würden sie da sein.
Von einem Augenblick zum anderen war es, als erwache ein Räderwerk in seinem Kopf. Es bewegte sich stockend, nahm Fahrt auf.
Die polizia war schon da gewesen. War sie das wirklich? Oder waren es Männer gewesen, die sich als Polizisten ausgegeben hatten, die Niccolosi und seinen Liebhaber in Sicherheit wiegten, bevor sie diese grauenvolle, grauenvolle Tat verübten? Machte das einen Unterschied?
Amadeo war hierher gelockt worden. Der Tatort war übersät mit seinen Fingerabdrücken. Das Blut der Toten klebte an seinen Schuhen, und er hatte keinen Grund gehabt, nachts noch einmal in die officina zu kommen.
Die polizia war sicher jeden Augenblick da.
Der Restaurator zögerte keine Sekunde länger. Es gab einen Lastenaufzug im hinteren Teil der Räume, von dem eigentlich nur das Bestattungsunternehmen Gebrauch machte, doch der Zugang war von allen Stockwerken möglich. Amadeo hörte, wie die Sirenen verstummten. Türen klappten auf, schlugen zu.
Seine Gedanken rasten. Der Fiat stand ein Stück entfernt vor dem Park. Er hatte ein paar Schritte gehen wollen, bevor er sich der Begegnung mit Commissario Ubaldini stellte. Mit etwas Glück...
Er hörte Schritte. Schritte, die die Treppe emporpolterten. Rufe.
Den ascensore im Foyer würden sie sicher nicht aus den Augen lassen. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, dann war es diese. Amadeo duckte sich und kroch in den Lastenaufzug.
»Heiliger Johannes«, flüsterte er, und es war das erste ehrliche Gebet seit seiner Kinderzeit. »Heiliger Johannes, bitte steh mir bei.«
Dann drückte er den Knopf, der ihn ganz nach unten bringen würde. Dort gab es einen Ausstieg in den Hinterhof.
Ins Freie.
St. Gallen, 3. September
XXVI
Amadeo war noch nie gern geflogen. Er mochte das nicht, sich auf Gedeih und Verderb jemandem — oder etwas — auszuliefern, auf das er keinen Einfluss hatte. Aus demselben Grunde fuhr er ungern mit der Bahn oder mit dem Schiff. Eine Kreuzfahrt hätte er sich ohnehin nicht leisten können, und selbst wenn: Eine Kreuzfahrt wäre nichts für ihn gewesen. Mit dem Fliegen war es ähnlich. Einzig und allein mit dem Unterschied, dass er bei einem Schiffsunglück im schlimmsten Fall noch schwimmen konnte. Fliegen konnte er nicht, nicht mal im Notfall.
Flugzeuge waren ein bisschen wie, ja, wie Aufzüge. Die mochte er auch nicht. Seit dieser Nacht war das endgültig besiegelt. Die Fahrt im Lastenaufzug: War sie das Ende des Alptraums in der officina gewesen oder der Beginn eines neuen?
Amadeo hatte es nicht gewagt, in seine Wohnung zurückzukehren. Er war in den Fiat gestiegen, keine hundert Meter entfernt von den Blaulichtern der Einsatzfahrzeuge, und stadtauswärts gefahren, auf die Colli Albani zu. An einem bancomat hatte er die höchste Summe abgehoben, die das Gerät ihm auszahlen wollte. Wenn sich das irgendwie zurückverfolgen ließ, würden sie nicht wissen, dass er zum Flughafen unterwegs war. Und Bargeld war Bargeld.
Dann hatte er einen großen Bogen geschlagen nach Fiumicino. Die Shops am aeroporto waren sündhaft teuer, aber man bekam alles dort. Sogar neue Schuhe. Unterwäsche, Hemden, eine zweite Hose, Waschzeug — und eine Reisetasche, die nicht zu billig wirkte. Nun saß er hier im Flieger.
Die polizia sei schon da gewesen, hatte Niccolosi gesagt.
War es wirklich die polizia gewesen? Wenn es so gewesen war, dann war es umso schlimmer: Denn das bedeutete, dass sie tatsächlich mit den Männern in den dunklen Anzügen unter einer Decke steckte — und dann war Amadeo bei keinem Schritt auf italienischem Boden seines Lebens mehr sicher. Er selbst und mit ihm möglicherweise jeder, mit dem er Kontakt aufnahm. Sollte er Helmbrecht verständigen? Ihn benachrichtigen, in welcher Gefahr sie schwebten? Oder beschwor er diese Gefahr für den Professor damit überhaupt erst herauf? Die
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