Die letzte Offenbarung
weiter! Äxgüsi!« Er nickte Amadeo zu.
Der Restaurator erwiderte die Geste stumm. Wäre er nicht in den kleinen Beat gelaufen, hätte er eine der Vitrinen erwischt. Als die Schüler ihren Rundgang fortsetzten, blickte er selbst staunend durch das Glas. »12 Ms. C 9 8«, las er. »Notker der Deutsche.« Diese Buchstaben... gewaltig! Die Ähnlichkeit zum Hortulus und zu dem Seneca war überwältigend.
»Ich will ja nicht drängeln«, zwinkerte Rebecca. »Äxgüsi, aber wir müssen auch weiter.«
»Gewiss«, antwortete er, »gewiss.« Resigniert schloss er die Augen. Er klang wie Helmbrecht.
Eine holzverkleidete Tür, und sie betraten eine andere Welt. Ein modernes Treppenhaus, an den Wänden hellbeige Tapeten. An der Wand ein Merianstich mit einer Ansicht von Stadt und Kloster im siebzehnten Jahrhundert, dort das Porträt eines Abtes. Sein Gesichtsausdruck wirkte skeptisch, vielleicht hatte er Rebeccas Piercing bemerkt.
Es ging zwei Stockwerke nach unten, dann durch eine neue Tür in einen hellen, funktionell eingerichteten Arbeitssaal, der den jungen Restaurator sofort an das Sekretum der officina erinnerte. Angestrengt drängte er die Gedanken an die verwüsteten Arbeitsräume und an Niccolosis zerschundenen Körper beiseite.
Seltsam: Hier herrschte eine fast klösterliche Atmosphäre, obwohl nichts in diesem Raum älter war als hundert Jahre, abgesehen von den Handschriften, die hier und da auf den Tischen lagen, und vielleicht dem einen oder anderen Hinterkopf, der zwanzig Zentimeter über dem Pergament zu schweben schien.
Als Rebecca ihn quer durch den Saal führte, warf Amadeo einen kurzen Blick auf die anderen Wissenschaftler. Seit der Zeit in Weimar hatte er nicht mehr so viele hässliche Pullunder auf einen Schlag gesehen. Stattdessen richtete er seinen Blick wieder auf die Rückseite seiner Führerin, ein bedeutend erfreulicherer Anblick. Irgendwie musste er sich ablenken, nur nicht an die officina denken.
Am Ende des Saals gab es zwei Arbeitsplätze, die durch hohe Stellwände vom Rest des Raumes abgetrennt waren.
Rebecca wies auf einen davon. »Eigentlich sind sie reserviert für kirchliche Forschungsaufträge«, sagte sie leise. »Aber keiner da im Moment. Ich hole Ihnen jetzt gleich den Vergil. — Ach ja, Monsignore Zug würde gerne mit Ihnen zu Mittag essen«, fügte sie an.
Das musste der Custos sein, Helmbrechts Bekannter.
Amadeo neigte zustimmend den Kopf. »Gerne.« Eine glatte Lüge. Ob ihm das anzusehen war?
Er ließ sich nieder und begann den Laptop und sein Arbeitsgerät auszupacken. Dazu gehörte auch eine unauffällige Mappe aus schwarzem Leder, in der sich neben einer Reihe von Lupen, Zetteln und Stiften zwei scharfe Lanzettmesser verbargen — und ein verstöpseltes Reagenzglas mit der verschnörkelten Aufschrift »prodotto per il bagno: lavanda« . Im Nachhinein das Sinnvollste, was ihm seine mamma jemals geschenkt hatte — nur, dass er das Lavendelbadesalz durch Vitriol ersetzt hatte.
Der Arbeitsstuhl war bequem, vielleicht schon ein wenig durchgesessen von klerikalen Hinterteilen. Am Arbeitstisch gab es einen Anschluss, über den er seinen Rechner mit dem hauseigenen Netzwerk verbinden und sich ins Internet einwählen konnte. Das würde er sich verkneifen.
Links über dem Tisch, neben einem Sprossenfenster, das auf den Klosterhof hinausging, hing ein gerahmter Holzschnitt an der Wand. Eine Heilige in Ordenstracht, gestützt auf eine Hellebarde. Amadeo erhob sich ein Stück, fand aber keinen Hinweis, wer hier dargestellt war.
»Die heilige Wiborada«, sagte eine Stimme.
Amadeo zuckte zusammen, denn er hatte Rebecca nicht kommen gehört. Ihre grünen Augen funkelten. Katzenaugen , dachte er. Sie bewegt sich auch lautlos wie eine Katze.
»Die Schutzheilige der Bibliotheken.« Sie legte einen verschnürten Karton auf den Arbeitstisch. »Die erste Frau überhaupt, die heiliggesprochen wurde, wussten Sie das?«
Er schüttelte den Kopf. »Warum gerade sie?«
»Es war die Zeit der Ungarneinfälle zu Beginn des neunten Jahrhunderts. Wiborada lebte als Rekluse hier in St. Gallen. Sie hatte sich in ihrer Zelle einmauern lassen und blieb dort etwa zehn Jahre, völlig abgeschlossen von der Welt. Dann, eines Tages, hat sie eine Vision: Die Ungarn sind auf dem Weg nach St. Gallen. Sie beschwört den Vater Abt, den Konvent und vor allem die wertvollen Handschriften in Sicherheit zu bringen, was auch geschieht. Die Stadt ist leer, als die Ungarn kommen, nur Wiborada ist
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