Die letzte Offenbarung
öffnete, und fügte an: »Für den Augenblick.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Was wir beide jetzt wissen, ist auf jeden Fall genug, um weiterzumachen. Der Professor ist im Moment nicht in Gefahr. Sie hätten ihn nach Belieben töten können, und Sie selbst gleich mit. Offenbar haben sie daran im Augenblick kein Interesse.« Rebecca beugte sich über die Papyri und pfiff durch die Zähne. »Das ging ja mal schnell. Wirklich eindrucksvoll.«
Amadeo trat zu ihr, und sie machte ihm Platz. Kitzelnd streifte eine Strähne ihres Haares seine Wange, und wieder fing er einen Hauch ihres Duftes ein. Diese Frau verwirrte ihn. Er betrachtete das unterste Fragment der Handschrift. Da war sie, die bereits vertraute, klare Schrift ihres Freundes aus dem späten zehnten Jahrhundert. Ob sie seinen Namen jemals erfahren würden?
In.interiore.hominem.habitat.veritas .
»Zur Abwechslung mal was Christliches«, murmelte er.
»Sie kennen den Satz?«
Amadeo bejahte. »Augustinus von Hippo, De veritate . Darin setzt er sich sehr eingehend mit dem Wahrheitsbegriff auseinander. Nur im Innern des Menschen ist Wahrheit.«
»Klingt ja fast modern«, sagte Rebecca erstaunt. »Nach Aufklärung, nach Descartes: cogito ergo sum . Ich denke, also ich bin. Das ist christlich?«
»Man muss das vor dem Hintergrund der Zeit betrachten. Der Mensch hat die Wahrheit natürlich nicht aus sich selbst heraus, sondern Gott hat sie in ihn hineingelegt. Gott ist die Wahrheit, übrigens nach Ausweis des Johannesevangeliums. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben , heißt es dort. Das passt sehr gut.«
»Also Augustinus«, murmelte sie. »Ich glaube nicht, dass es in Sankt Gallen einen Augustinus aus dem zehnten Jahrhundert gibt.«
»Das wissen Sie nicht?« Er war perplex. »Ich denke, Sie sind Zugs rechte Hand?«
»Wenn Sie drauf bestehen, dann frag ich ihn«, sagte sie. Aber anstatt Anstalten zu machen, den Raum zu verlassen, um den Custos noch einmal aufzusuchen oder zum Telefon zu greifen, bückte sie sich und zog ein Schubfach unter ihrem Schreibtisch auf.
»Na also«, murmelte Rebecca nach einem Augenblick und brachte eine Digitalkamera zum Vorschein, mit der sie eine Reihe von Aufnahmen machte: zunächst den Text in seiner Gesamtheit, dann jedes Fragment einzeln. Schließlich aktivierte sie die Makrofunktion und hielt noch einmal das Augustinus-Zitat fest. Danach schloss sie die Kamera an den Rechner an und klickte auf »Übertragen«.
»Geben Sie mir mal Helmbrechts Mailadresse«, sagte sie und ließ sich an der Tastatur nieder.
»Er wird ziemlich überrascht sein, wenn er die Mail von Ihnen bekommt und nicht von mir«, bemerkte Amadeo spitz.
Ihre Finger schwebten über den Tasten, und sie zögerte. »Gut möglich«, stimmte sie zu. »Sie haben ihm mehrfach geschrieben?«, fragte sie. »Aus der officina?«
»Zwei oder drei Mal«, bestätigte er. »Allein in den letzten Tagen.«
»Dann sollten wir diese Mailadresse schon einmal nicht verwenden. Nicht, nachdem Ihre Freunde mit den dunklen Anzügen in der officina waren.«
Er wurde blass. »Sie denken, sie haben meine Daten?«
»Möglich«, sagte sie noch einmal. »Haben Sie noch eine andere Adresse, oder...«
»Machen Sie nur«, murmelte er. »Aber glauben Sie, sie lassen Helmbrecht seine Mails abrufen?« Er gab ihr die Adresse und blickte höflich beiseite, als sie ihr Passwort eingab, um ihre Post zu lesen.
»Wie sollte er sonst an die Manuskripte kommen?«, fragte sie.
Rebecca rief die digitalen Fotos der Texte aus dem Vergil auf den Schirm und lächelte zufrieden. In der Tat: Sie waren wesentlich schärfer als die Aufnahmen, die Amadeo mit seinem telefonino gemacht hatte.
Sie blickte über die Schulter. »Wollen Sie Helmbrecht noch etwas ausrichten?«
Amadeo dachte nach. »Bitte schreiben Sie, wir tun für ihn, was wir können. Wenn wir ihm irgendwie helfen können, soll er uns sagen, was wir machen sollen.«
»Das werden wir schon erfahren«, erwiderte sie und klickte auf »Senden«.
»Und jetzt?«, fragte er.
»Abwarten«, sagte sie und fuhr sich durch die Mähne, »und Tee trinken. Mögen Sie einen?«
XXXV
Die Antwort kam eine Dreiviertelstunde später. Sie war kurz, doch sie enthielt alles Notwendige:
Liebe Frau Steinmann, lieber Amadeo ,
der neue Text scheint fortzusetzen, was wir bereits gedacht haben. Uneinigkeiten innerhalb der Jüngerschar, bei denen besonders Petrus eine Rolle gespielt zu haben scheint. Denken wir weiter in diese Richtung .
Die
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