Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
Vom Netzwerk:
Goldschmiedearbeit des Mittelalters: Gemmen, Kameen, über tausend Edelsteine und Perlen. Es ist...« Er vollendete den Satz nicht.
    Gebannt betrachtete Amadeo das Kunstwerk. Rebecca stand an seiner Seite, gefangen vom Zauber des Augenblicks.
    War es der Zauber dieses Ortes? Rebeccas ganz eigener Zauber? Nein, nichts davon traf es. Dennoch war es ein Zauber, ein Zauber zwischen ihnen beiden. Eine Magie, die sich nicht erklären ließ. Eine Magie, die auf einmal da war, von einem Augenblick zum anderen. Oder hatte sie schon seit Tagen am Rande seines Bewusstseins gelauert? Seit er zum ersten Mal in diese grünen Augen geblickt hatte? Amadeo konnte sich dem Zauber nicht entziehen, und auch Rebecca vermochte es nicht. Ganz langsam wanderte seine Hand zu der ihren, und ihre Finger legten sich ineinander. Sie sahen einander nicht an, hätten nicht sagen können, was es bedeutete. Ein Versprechen oder doch nur der geteilte Moment, ein Moment, der ewig zu dauern schien.
    So lange, bis Görlitz sich umwandte und seine Brauen sich zusammenzogen, als er sah, dass sie Händchen hielten.
    »Ja, das ist dann der Schrein«, sagte er, lauter als bisher, und beendete den Augenblick.
    Amadeo spürte, wie sich Rebeccas Finger aus den seinen lösten. Zugleich aber warf sie ihm einen Blick zu, einen Blick, den er nicht zu deuten wusste und der doch eine Wärme in seinem Innern erwachen ließ, die auch Görlitz' Worte nicht zum Erlöschen bringen konnten. Er sprach noch immer von dem Heiligen Schrein, und trotzdem klangen die Worte jetzt seltsam profan.
    »Natürlich weiß man nicht genau, ob die Schädel, die hier verwahrt werden, echt sind«, erklärte er und fuhr sich durchs Haar, bevor er sich auf der marmornen Brüstung abstützte. Als er die Hände wieder wegnahm, ertappte sich Amadeo dabei, dass er Ausschau hielt, ob der Gegelte Fettspuren hinterlassen hatte. Görlitz fuhr fort: »Wir wissen, dass Rainald von Dassel, der Reichskanzler Friedrich Barbarossas und Erzbischof von Köln, sie im Jahre 1164 als Belohnung für seine Verdienste bei der Eroberung von Mailand erhielt und in seine Bischofsstadt bringen ließ. Drei Jahre später starb Rainald vor den Toren Roms.«
    »Der römische Sommer«, nickte Amadeo. »Dieses Jahr ist es wieder besonders eklig, und damals muss es die Hölle gewesen sein, mit den Malariasümpfen rund um die Stadt. Vom Heer der tedeschi ist nicht viel übrig geblieben.«
    »Ganz ohne Kämpfe?«, fragte Rebecca.
    »Nicht ganz«, schüttelte Amadeo den Kopf. »Die Römer wollten Barbarossa nicht haben — noch den pontifice , den er im Gepäck hatte. Schließlich hatten sie ihren eigenen, den dritten Alessandro. Aber es gibt Statistiken, die besagen, dass das Klima Italiens mehr von den mittelalterlichen tedeschi umgebracht hat als alle Schlachten zusammen.«
    »Jedenfalls war es Rainalds Nachfolger, der dann den Schrein in Auftrag gab«, zog Görlitz das Gespräch wieder an sich. »Als er 1191 starb, war er wohl im Wesentlichen fertig. Einige der schönsten Arbeiten kamen dennoch erst in den folgenden Jahren hinzu. An der Vorderseite die Darstellung der Könige, die sich der Gottesmutter und dem Kind nähern, und die Rückseite ist die jüngste, wohl erst im dreizehnten Jahrhundert entstanden, unter Kaiser Friedrich II.« Er hob die Schultern. »Wenn sie nur mal mit allen Beutestücken so sorgfältig umgegangen wären. Wie gesagt, der Boëthius sah aus!«
    »Der Boëthius?«, fragten Amadeo und Rebecca wie aus einem Mund.
    Görlitz legte die Stirn in Falten. »Natürlich. Deshalb seid ihr doch hier, dachte ich?«
    »Der Boëthius kam aus Mailand?«, fragte Amadeo nach. »Ist das sicher?«
    Görlitz bestätigte. »Nach Ausweis der mittelalterlichen Bestandsbücher, ja. Aber er ist sicher nicht in Mailand entstanden. «
    Jetzt horchte Amadeo auf. In seiner Inkarnation als Norwegerpulli- und Cordhosenträger hatte Görlitz in Weimar zwar als echte Schlaftablette gegolten, doch niemand hatte bezweifelt, dass er sich seine Meriten als Paläograph binnen kurzem verdienen würde. Amadeo hatte zeitweise damit gerechnet, dass er einmal Helmbrechts Stelle einnehmen würde, wenn der Professor sich aus der Leitung des Instituts zurückzog.
    »Nördlich der Alpen«, sagte Görlitz. »Ich behaupte, ich weiß es sogar genauer. Um ganz exakt zu sein«, ein seltsames Funkeln trat in seine Augen, »ich bin mir sicher, dass ich den Schreiber kenne.« Er schaute auf seine Armbanduhr und schien einen Augenblick zu überlegen.

Weitere Kostenlose Bücher