Die letzte Offenbarung
Augen getreten, als könnte er tatsächlich das himmlische Jerusalem erkennen.
Amadeo wusste, dass er stattdessen die prachtvolle Eingangshalle meinte, auf Säulen gelagert und mit einem mächtigen Rundbogen in der Mitte. Erst dahinter erhob sich die dreitürmige Westfassade der Kirche. Die ganze Anlage war einzigartig in Deutschland.
»Kommt!«, sagte Görlitz, als müsste er sich selbst aus seinem Tagtraum wecken. »Wir werden erwartet.«
Rebecca zog die Stirn in Falten. Amadeo fand, dass ihr das jedes Mal etwas Gefährliches, Verwegenes gab. »Erwartet?«, fragte sie.
Doch Görlitz' öliger Schopf war bereits im Schatten des Paradieses verschwunden, und ihnen blieb nichts, als ihm zu folgen.
Der Gegelte überquerte einen grasbewachsenen Hof und trat zu einer Tür, die in die eigentliche Kirche führte. Zu Amadeos Überraschung war sie nicht abgeschlossen.
»Kommt ihr?«, fragte Görlitz, als sie zögerten.
Sie konnten nur einen kurzen Blick in den gewölbten Innenraum der Kirche werfen. Görlitz wandte sich sofort wieder nach rechts und hielt auf eine verglaste Doppeltür zu, die Amadeo zunächst gar nicht bemerkt hatte. Der Gegelte zog etwas aus der Tasche — ein Schlüsselbund. Amadeo war baff.
»Was soll das heißen, wir werden erwartet?«, fragte Rebecca noch einmal.
Auf Amadeos Unterarm stellte sich unvermittelt eine Gänsehaut auf. Er sah zurück in die Klosterkirche. Sie war menschenleer. War Maria Laach nicht ein beliebtes Ziel für Pilger und Touristen? War draußen nicht herrliches Ausflugswetter? Trotzdem hatten sie keinen Menschen gesehen, seitdem sie aus dem Wagen gestiegen waren.
Aus dem BMW.
Amadeo erstarrte und wechselte einen Blick mit Rebecca. Sie musste es im selben Moment erkannt haben.
»Ich denke, es ist für alle Seiten am besten, wenn ihr einfach mitkommt«, sagte Görlitz.
Hatte seine Stimme sich verändert, oder bildete Amadeo sich das nur ein? Es ist eine Falle, dachte er, eine offensichtliche Falle. Und wir laufen mitten hinein.
»Er hätte es einfacher haben können«, sagte Rebecca leise und trat einen halben Schritt an Amadeo vorbei.
Als sie sah, dass er noch immer zögerte, griff sie nach seiner Hand. Er schämte sich, denn seine Finger waren eiskalt. Dennoch tat es gut, Rebecca zu spüren. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Schicksalsergeben schloss Amadeo sich an.
Hand in Hand traten sie durch die Tür und gelangten in die kühle Stille eines Kreuzgangs. Nach links öffneten sich Arkaden zu einem efeuüberwucherten Innenhof, in dessen Mittelpunkt ein Brunnen sprudelte. Amadeo erkannte Spuren der Restaurierung, doch man war sehr sorgfältig zu Werke gegangen — der neuere Gebäudeteil fügte sich harmonisch in die ältere Anlage.
Görlitz hatte es auf einmal sehr eilig, vielleicht wollte er auch nur weitere Fragen vermeiden. Er bog in den Südarm des Kreuzgangs ab und blieb dann an einer neuen Tür stehen, bis sie ihn eingeholt hatten. »Ihr werdet erwartet«, sagte er noch einmal.
»Steffen!« Amadeo sah ihm in die Augen. »Sag mir, was das zu bedeuten hat!«
»Ihr werdet es gleich erfahren«, sagte Görlitz und blickte zwischen ihnen hindurch. »Aber nicht von mir.« Er klopfte. Ein zweites Mal.
Von drinnen war eine undeutliche Antwort zu hören. Görlitz wies auf die Tür.
»Du kommst nicht mit?«, fragte Amadeo.
Der Gegelte schüttelte stumm den Kopf.
Amadeo sah zu Rebecca. Die junge Frau nickte stumm. Er drückte die Klinke, die sich mit verhaltenem Quietschen senkte. Amadeo trat ein, Rebecca einen Schritt hinter ihm.
Es war dunkel in dem Raum. Nicht schwarz wie die Nacht, doch es herrschte ein merkwürdiges Dämmerlicht. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich zwei hohe, schmale Fenster, durch schwere Vorhänge nur undeutlich zu sehen. In einem Wandkamin glomm ein Feuer, trotzdem war es kalt hier, noch kühler als im Kreuzgang und deutlich kälter als der sonnige Septembertag draußen. Neben dem Kamin stand ein hoher, samtbezogener Lehnsessel, ein Thron beinahe, daneben ein runder Tisch, auf dem sich Bücher und Unterlagen türmten.
Im Sessel saß ein hochgewachsener Mann in einer schwarzen Soutane und blickte ihnen reglos entgegen, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Buon giorno, Signor Fanelli.« Die Stimme klang rau. Ein steifes Nicken des Kopfes. »Signorina Steinmann.«
»Buon giorno« , erwiderte Amadeo. Rebecca schwieg.
Im Halbdunkel versuchte Amadeo den Sprecher genauer zu erkennen. Auf seinem Kopf saß ein
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