Die letzte Offenbarung
Gegner? Es war so abstrakt, so schwer, sich das klarzumachen. Pius XIV., wie man ihn aus dem Fernsehen kannte, sah nicht aus wie ein Mensch, der Killer in schwarzen Anzügen losschickte. Das passte einfach nicht, wenn man das Foto auf den Shirts der Jugendlichen betrachtete: dieses scharf geschnittene Gesicht, welches das Erbe der amerikanischen Ureinwohner nicht verleugnen konnte, gemildert durch freundliche Falten um die Augen und einen tiefen Zug der Sorge um den Mund — oder war es Resignation?
Glaub mir, es ist fürchterlich, gerade hier in Köln. Alle Frauen lesbisch, alle Kerle schwul . Görlitz mochte das ja fürchterlich finden, wenn auch hauptsächlich deshalb, weil er bei der einen oder anderen Dame nicht zum Zuge kam, aber diese jungen Leute: Würde es für sie einen Unterschied machen, dass Jesus und Johannes Liebende gewesen waren? Es waren um die zwanzig junge Männer und Frauen, vielleicht aus dem Abitur Jahrgang einer katholischen Oberschule oder etwas in der Art. Rein statistisch mussten ein oder zwei von ihnen ausgeprägte homosexuelle Neigungen haben. Was würde es für sie bedeuten, wenn sie wüssten: Der Begründer ihres Glaubens hatte ganz genauso gefühlt wie sie selbst?
Der Begründer eines Glaubens, dachte Amadeo grimmig, dessen Nachfolger die gleichgeschlechtliche Liebe als schwere Sünde brandmarkten, als Krankheit. Petrus nämlich behagte es nicht, dass wir taten, wie die Griechen tun, denn das sei wider das Gebot des Mose .
Wieder betrachtete er Pios Konterfei auf den T-Shirts der fröhlichen jungen Leute. »Zweitausend Jahre«, murmelte er. »Ihr habt ihn schon damals nicht verstanden — und heute seid ihr keinen Schritt weiter.«
XLVIII
Rebecca musste sich die Blase verkühlt haben. Während Görlitz seine Besucher durch das Innere des Domes führte, verschwand sie erneut für einige Minuten, schloss sich den beiden Männern jedoch wieder an, bevor sie den Hochaltar erreichten.
»Das ist gigantisch«, flüsterte Amadeo. Er hatte in seinem Leben schon viele Gotteshäuser gesehen, vom plumpen Kalksteinbau der Dorfkirche daheim in den Abruzzen bis zu St. Peter in Rom selbst, doch von diesem Dom ging ein ganz eigener Zauber aus.
Man kann an das glauben, was die Kirche erzählt oder auch nicht, dachte Amadeo, aber die Tatsache bleibt: Dieser Dom steht hier seit siebenhundert Jahren, und vorher hat es an genau dieser Stelle eine ältere Kirche gegeben und davor eine noch ältere. Und davor... vielleicht einen römischen Tempel? Görlitz hatte es ausführlich referiert, und Amadeo war sich sicher, dass auch er den Zauber dieses Ortes spürte, genau wie Rebecca.
Seit so langer Zeit kamen Menschen hierher, mit ihren Sorgen, ihren Hoffnungen, ihrer Dankbarkeit, ihrer Verzweiflung. Ihrer Schuld, ihrem Glauben. War es ein Wunder, dass der Kirchenraum aufgeladen war, erfüllt war von all diesen tiefen Gefühlen? Nein, es war nicht die schiere Größe allein, es waren nicht allein die mächtigen Gewölbe, die über dem Marmorboden des Langhauses zu schweben schienen, mehr als vierzig Meter hoch. Nicht allein die Pracht der Pfeiler, Säulen, Kapitelle, die den Blick in die Höhe rissen, atemlos, jagenden Herzens, Verheißung des Jenseits, des himmlischen Jerusalem, auf Erden schon gegenwärtig geworden im Innern dieser Kathedrale. Es war viel mehr als das.
»Der Dreikönigsschrein«, sagte Görlitz mit leiser Stimme. »Kaspar, Melchior, Balthasar. Die Weisen aus dem Morgenland, die dem neugeborenen Christuskind ihre Geschenke bringen.«
»Ihre Namen werden in der Bibel nicht genannt«, erwiderte Amadeo, und seine Stimme klang belegt. Die ungeheure Weite des Raumes wollte sie verschlucken. »Auch nicht, dass sie Könige waren. Erst bei Iacobus de Voragine, in der Legenda Aurea ...«
»Macht das einen Unterschied?«, unterbrach ihn Rebecca. »Das ist wunderschön.«
Langsam umschritten sie den Hohen Chor, einmal um den Schrein herum. Dies war der älteste und heiligste Teil der Kirche, der noch auf Konrad von Hochstaden zurückging, den vielleicht mächtigsten Erzbischof, den das mittelalterliche Köln gekannt hatte. Görlitz wies sie auf eine Reihe von Epitaphien und Grabmälern hin, die an der Außenseite des Chores angebracht waren, doch immer wieder wurden ihre Blicke angezogen vom Zentrum, vom funkelnden und leuchtenden Schrein der Könige.
Görlitz räusperte sich. »Er besitzt die Form von drei Sarkophagen, seht ihr das? Der oberste ruht auf den beiden anderen. Die größte
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