Die letzte Offenbarung
gehorchte der Kirchenmann. »Das werden Sie bereuen!«, zischte er.
Rebecca hob die Schultern. »Jedenfalls noch einen schönen Abend.«
Damit ließ sie sich in den Wagen gleiten, schloss die Tür und startete den Motor. Beim Ausparken streifte das Licht noch einmal Bracciolini, der in seiner Soutane, und ohne zucchetto auf dem kahlen Schädel ein wenig verloren am Rande der Parkbucht stand. Zwei Sekunden später hatte ihn bereits die Dunkelheit verschluckt.
»Augenblick«, sagte Amadeo. »Bitte noch mal anhalten.«
Sie brachte den Wagen zum Stehen. »Willst du noch was von ihm?«
»Nein, ich muss nur mal eben.«
»Hier?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an.
»Bin gleich wieder da«, sagte Amadeo, griff nach dem Handy und schlüpfte aus dem Wagen.
Zwei Minuten später war er zurück.
»Und?« Misstrauisch sah sie ihn von oben bis unten an.
»Ach.« Er betrachtete seine Fingernägel. »Nichts. Ich habe gerade eine Lebensversicherung abgeschlossen.«
LIV
Die Nirvana-CD lief noch immer, als sie weiter durch die Nacht fuhren, doch irgendwie war es ein seltsames Gefühl: Seit dem Morgen war Amadeo nicht mehr mit Rebecca allein gewesen. Görlitz' gelige Gegenwart und später dann ihr klerikaler Gefangener, ganz zu schweigen von dem blutigen Scharmützel zwischen Bracciolinis und Niketas' Männern hatten immer wieder in den Hintergrund treten lassen, was am Nachmittag geschehen war:
Der Augenblick vor dem Dreikönigsschrein im Dom, als sich ihre Hände gefunden und sie einander ein wortloses Versprechen gegeben hatten. Jetzt, da die Nacht angebrochen war und nur noch selten auf der Gegenfahrbahn Lichter vorbeihuschten, kam die Erinnerung zu ihnen zurück. Die Stimme des Sängers, dessen Name Amadeo wieder einmal entfallen war, klang sehr sanft bei diesem Titel. Mit klopfendem Herzen streckte er die Hand aus und legte sie leicht auf Rebeccas Oberschenkel.
Sie hob für einen Moment die Augenbrauen, doch dann sah sie zu ihm herüber und schenkte ihm ein Lächeln. Ihre Hand legte sich auf die seine. Amadeos Mund war trocken. Das hier war so anders als alles, was er in seinem ja nun auch nicht gerade kurzen Leben erlebt hatte. Nicht nur, dass bisher immer er bei solchen Gelegenheiten am Steuer gesessen hatte.
»Wir sind bald in Frankfurt«, sagte Rebecca leise. »Das ist weit genug weg, denke ich. Wir sollten uns ein Zimmer nehmen.«
Das kleine Motel, das sie kurz darauf erreichten, lag am Rande des Taunus, der sich fast unsichtbar in der Dunkelheit erhob. Rebecca stellte den Golf in einiger Entfernung ab — wer konnte schon sagen, wann nach ihm gesucht wurde?
Die Wasserstoffblondine an der Rezeption schien sich mehr für ihren Kaugummi zu interessieren als für die späten Gäste. Lediglich an ihren Ausweisen zeigte sie Interesse.
»Tut mir echt leid, aber ohne darf ich Ihnen kein Zimmer geben«, meinte sie achselzuckend und schob den Kaugummi auf die andere Seite. Für einen Moment lag jetzt doch Neugier in ihrem Blick, der gar nicht zu verschleiern suchte, dass sie an Rebeccas und Amadeos Händen nach Eheringen — vermutlich unterschiedlichen — Ausschau hielt.
Wortlos legte Rebecca zwei Hunderteuroscheine auf den Tresen.
Das Mädchen kaute noch einen Augenblick. »Nummer sechs«, sagte die Blondine dann, machte eine Blase und ließ sie platzen. »Quer über den Hof.«
Das Motelzimmer war klein, aber recht behaglich, soweit das für einen so unpersönlichen Raum möglich war. Ein Teppichboden von undefinierbarer Farbe, ein Bett — ein Doppelbett —, eine durchgesessene Sitzecke und ein kleiner Beistelltisch, daneben die Tür zur Nasszelle aus halb durchsichtigem Milchglas.
»Gib mir eine Viertelstunde«, sagte Rebecca grinsend und streifte ihre Bluse ab.
Amadeo hatte sie bereits in England so gesehen, als sie sich die Waffe umschnallte, und doch war es nun etwas anderes. Er konnte nur nicken, sprechen konnte er nicht.
Eine Minute lang starrte er auf die Milchglasscheibe und den graziösen Umriss, der sich dahinter bewegte. Eine Viertelstunde? Bis dahin hatte er den kümmerlichen Rest Verstand verloren. Er musste sich irgendwie ablenken, und sein Blick fiel auf das Paket mit dem Boëthius. Vorsichtig packte er den Codex aus und strich mit den Fingern über den uralten ledernen Einband. Boëthius' Trost der Philosophie war etwas ganz Besonderes: Im Gefängnis entstanden, während der große Gelehrte auf seine Hinrichtung wartete, war sie Höhe- und Endpunkt der antiken Philosophie zugleich.
Nur kurz
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