Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
immer verschreckter, gefolgt von dem Araber mit der anderen Taschenlampe.
Die Äbtissin begann wieder zu beten:
»Seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Wir glauben an den Heiligen Geist,
den Herrn und Lebensspender …«
Mutter Valerias zittrige Stimme hallte in dem Gewölbe wider. Liam versuchte sich zu konzentrieren.
»… der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht,
beim Klirren des Glases, Meister, reagiert
und nach draußen eilig flieht,
der mit dem Vater und dem Sohne
angebetet und verherrlicht wird,
der gesprochen hat durch die Propheten …«
Erneut schwieg Mutter Valeria, auf Antwort wartend.
Auch diesmal war die Botschaft für Liam klar: Um der Feuersbrunstzu entkommen, musste er zu fliehen versuchen, ins Freie gelangen, sobald er hörte, wie der Keil das Glas zerbrach.
Er erschauderte, dann antwortete er: »Amen.«
Damit hatte die Äbtissin ihr Gebet beendet.
Die Treppe führte noch weiter hinab. Die Temperatur war empfindlich gefallen, und die Feuchtigkeit nahm einem den Atem. Von kleinen Stalaktiten fielen milchige, eiskalte Tropfen und erzeugten auf dem Boden ein tickendes Geräusch. Liam schätzte, dass sie schon mindestens dreißig Stufen hinabgestiegen waren, als der Gang sich plötzlich zu einem rechteckigen Raum weitete. Er war etwa zehn Meter lang und zwei, drei Meter breit.
In der gegenüberliegenden Wand, am Ende des Raumes, befand sich eine Nische mit einem Gitter, das den Tunnel abschloss. Aus der Rückwand der Nische ragte ein glattes Metallrad ohne Griffe. Oberhalb des Rades war ein waagrechter Schlitz, durch den man eine zweite Höhle sehen konnte. Aber einen Zugang gab es nicht.
Statt eines Fußbodens gab es ein großes Eisengitter, unter dem die Treppe noch weiter in die Tiefe, in einen weiteren Raum führte, eine Krypta, die genau unter der Höhle hinter der Nische lag.
Liam ging noch einmal im Stillen das Protokoll des Ossius durch und verstand: Mit Konstantins Schlüssel musste man das Gitter an der Nische öffnen, um an das Rad zu kommen. Und wenn man das Rad drehte, öffnete sich das Gitter im Boden, und man konnte in den Raum hinabsteigen, wo offensichtlich die Schriftrolle lagerte. Es war eben diese Bewegung, die, wenn nicht genau zur Sonnenwende ausgeführt, die Sanduhr gegen den Keil drückte und so zerbrach.
Wahrlich ein genialer Mechanismus, dachte Liam. Um an das Rad zu kommen, musste man über das Bodengitter gehen, das von einer Wand zur anderen reichte. Aber sobald maneinmal an der Nische stand, konnte man nicht mehr zurück, solange das Gitter offen war: Man würde in die Krypta hinabstürzen, aus mindestens fünf Metern Höhe … So also zwang Vitruvianus den Meister, während der gesamten Öffnungszeit am Rad stehen zu bleiben, wodurch der Zugang zur Rolle verwehrt war.
Und das Rad war glatt poliert: Man hatte keine Chance, es irgendwie zu arretieren. Nur mit Hilfe der Hände des Meisters, dank der menschlichen Kraft, war es möglich, zur Schriftrolle zu gelangen. Zudem hatte immer nur eine einzelne Person Zutritt: Es war einfach kein Platz für zwei, und an den Wänden oder am Gewölbe fand man keinerlei Halt.
Sie waren alle vor dem Bodengitter stehen geblieben: Bandar hatte sich an den Rand gekniet und studierte es eingehend.
Er stand wieder auf und packte Mutter Valeria an der Schulter: »Frau, was ist das hier für ein Ort?«
Die Äbtissin antwortete ruhig, mit fast unhörbarer Stimme, in ihrem simplen Englisch: »Ein kräftiger Mann geht über das Gitter. Mit dem Schlüssel, den ihr besitzt, öffnet er die Nische und dreht das Rad. Ganz langsam. Das Bodengitter geht auf, und man kann in die Krypta hinabsteigen. Dort ist das, was ihr sucht. Aber der Mann darf das Rad niemals loslassen, sonst kommt man unten nicht mehr heraus. Und man muss schnell machen: Der Mechanismus stemmt sich gegen die Kraft der Arme.«
»Imar!«
Einer der Araber trat heran.
Bandar montierte den Schlüssel aus Chrismon und Ring und gab ihn dem Komplizen. Dann erteilte er ihm in seiner Sprache mehrere Befehle, auf das Rad in der Nische deutend.
Imar überquerte das Bodengitter und öffnete mit dem Chrismon die Nische, in der sich das Rad befand.
In diesem Moment fiel der Lichtstrahl aus einer Taschenlampedurch den Schlitz über dem Rad. Einen Moment lang konnte Liam in die Höhle jenseits des Spaltes sehen: Er meinte, die Lichtreflexe auf Hunderten von Sanduhren gesehen zu haben, die in allen Größen und Bauarten nebeneinander gruppiert waren.
Instinktiv
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