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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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ist.«
    »Ist es auch.« Bietigheim konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Der Patron der Käser ist Bischof Theodul von Sitten, ein Zeitgenosse Karls des Großen. Der wusste allerdings zeit seines Lebens weder Emmentaler, Limburger noch Romadur zu schätzen. Er erhielt die Patronage nur, weil spätere Generationen fälschlicherweise dachten, sein Attribut, eine umgedrehte Glocke, wäre ein Käsekessel.«
    Der Junge sah ihn mit großen Augen an. Bietigheim war sich nicht sicher, ob ihm Speichel aus dem Mundwinkel tropfte.
    »Was?«, fragt der Knilch dann.
    »Nichts, nur eine Anekdote.«
    »Eine was?«
    »Eine kleine erheiternde Geschichte.«
    »Ach, so. Erzählt mein Vater auch ständig. Das Fahrrad krieg ich nicht hin.«
    »Dann gib mir bitte mein Geld wieder.«
    »Ne, geht nicht. Die Arbeitszeit muss ich so oder so berechnen.«
    Bietigheim wurmte es schrecklich, von einem Dreikäsehoch übers Ohr gehauen worden zu sein. Er konnte Kinder sowieso nur bedingt leiden. Sie waren laut, zeigten Älteren gegenüber nicht den nötigen Respekt und handelten ständig unlogisch. Beim Hinausgehen schnappte er sich zur Strafe den vor der Haustür liegenden Fußball und warf ihn gegen die trockene weiße Wäsche in Nachbars Garten.
    An der Tür des nächsten Hauses musste er klopfen, denn eine Klingel gab es nicht.
    Eine Stimme antwortete aus dem Hof. »Hier hinten!« Sie klang wie ein grollender Sturm. Der Mann, den Bietigheim antraf, passte dazu, denn er sah aus, als hätte man ihn bei allen Stürmen der letzten sechzig Jahre vor die Tür gesetzt.
    »Wo sind Sie denn reingefahren?«, fragte der Mann. »Da ist ja der ganze Reifen durch.« Während er sprach, ließ er seinen Zigarrenstumpen im Mundwinkel hängen, wo er wie ein alter, brüchiger Schlot vor sich hin rauchte.
    »Können Sie mir helfen?«
    »Seh ich aus wie eine Werkstatt?«
    Beim richtigen Lichteinfall durchaus, dachte Bietigheim.
    »Sie sind aber nicht gerade gut gelaunt. Wahrscheinlich wegen der Käsemacherin, die gestorben ist. Habe ich im Radio gehört. Ist sicher ein herber Schlag für alle hier. Kannten Sie die Tote gut?«
    »Raus«, brüllte der Mann.
    »Aber ich habe doch nur …?«
    »Raus habe ich gesagt, und zwar sofort.« Er griff sich eine rostige Heugabel und trieb den Professor wie eine Kuh zurück auf die Straße.
    »Können Sie mir vielleicht verraten, wo ich …?«
    Nein, konnte er nicht. Denn der Mann verschwand bereits zurück in seinen Hof, einen Fluch nach dem anderen ausstoßend. Bietigheim gab vor, sie nicht zu verstehen. Dabei kannte er gerade die mit Lebensmittelbezug sehr genau aus seinem Aufsatz »Kulinarische Anspielungen in französischen Flüchen der Dreißigerjahre« – ein Riesenerfolg beim Münchner Kolloquium. Es war irgendwie schön, ein paar davon leibhaftig zu hören.
    Im Laufe des trocken-heißen Tages wurden ihm noch viele weitere Türen geöffnet. Die meisten Bewohner Epoigeys waren ausgesprochen freundlich, doch brachten sie den Professor kein Stück weiter. Es war bereits nach fünf, als er an der Tür eines der letzten Häuser an der Straße Richtung Beaune klingelte, das sich als Werkstatt eines netten Tüftlers herausstellte, der Bietigheims Fahrrad im Handumdrehen und kostenlos flickte. Was Bietigheim sehr ärgerte. Er musste schließlich noch den gesamten Osten Epoigeys abklappern! Also schob er den Drahtesel in eine Gasse und klappte sein Schweizer Offiziersmesser aus. Gerade wollte er erneut zustechen, als ihm jemand hart auf die Schulter tippte. Bietigheim ließ das Messer schnell in die Hosentasche gleiten.
    Hinter ihm stand Bürgermeister Jules Bigot.
    Und hinter diesem der alte Mann mit dem sturmgepeitschten Gesicht.
    »Dachte ich es mir doch, der Herr Professor aus Frankfurt.«
    »Aus der Hansestadt Hamburg bitte.«
    »Jetzt nicht frech werden! Danke, Gérard, dass du mich benachrichtigt hast. Du wirst dieses Jahr ein paar von den guten Losen bei der Tombola bekommen.«
    »Behalt deinen Dreck für dich«, antwortete Gérard und zeigte mit einem schmutzigen Finger auf den Professor. »Sorg nur dafür, dass der Kerl da wegkommt. Den können wir hier nicht gebrauchen. Der hat mich nach der alten Poincaré gefragt, als wüsste ich was über das Weib.« Er spuckte auf den Boden und verschwand.
    Jules Bigot drehte sich triumphierend zu Bietigheim. »Sie hören den Willen des Volkes. Gehen Sie und lassen Sie sich hier nie mehr blicken, Herr Professor !« Er ließ den akademischen Titel wie etwas klingen, das die

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